Ungebrochener Widerstand

Vor zehn Jahren kam der letzte Atommülltransport im Zwischenlager Gorleben an

  • Reimar Paul
  • Lesedauer: 5 Min.

Im Atommüllzwischenlager Gorleben sind gut ein Viertel der 420 Stellplätze belegt, 113 Castorbehälter mit hoch radioaktivem Atomschrott stehen und strahlen in der Halle. Der letzte von insgesamt 13 Transporten kam vor zehn Jahren, am 27. November 2011, in Gorleben an. Es war zugleich der längste: 125 Stunden und 49 Minuten war die Fuhre unterwegs. Demonstrationen und Blockaden entlang der gesamten Strecke hatten sie immer wieder aufgehalten.

»Die bange Frage war: Würden wir trotz des frisch verkündeten Atomausstiegs nach dem Tsunami und der Reaktorkatastrophe von Fukushima noch genügend Rückhalt finden mit dem Thema Atommüll und Gorleben?«, erinnert sich Wolfgang Ehmke von der Bürgerinitiative (BI) Umweltschutz Lüchow-Dannenberg. »Mir fiel ein Stein vom Herzen, als ich sah, wer sich da alles unserem Aufruf angeschlossen hatte und sich querstellen würde.«

Bereits bei der Abfahrt in Frankreich am 23. November begleitet wütender Widerstand den Transport. Demonstranten verbiegen einen Schienenstrang, entfernen Schotter aus dem Gleisbett. Die Polizei setzt Tränengas und Schlagstöcke ein, errichtet Straßensperren. Im Wendland laufen die Proteste am 24. November an. Unterstützt von Traktoren, demonstrieren 2000 Schüler*innen in Lüchow. Hunderte beteiligen sich an Mahnwachen und Laternenumzügen. Das Dorf Metzingen lädt am Abend zur traditionellen »Landmaschinenschau«: Bauern versperren mit Treckern, Anhängern und anderem Gerät die Bundesstraße 216.

Die Polizei geht mit Wasserwerfern und Pfefferspray gegen die rund 3000 Schaulustigen vor. »Schon an diesem Abend gab es viele Verletzte«, erzählt Marie (Name geändert). Die damals 19-jährige Schülerin ist aus Hannover angereist, wohnt in einem der vielen Camps, die auf Wiesen und Höfen errichtet wurden.

Der Castorzug passierte am 25. November um 10.17 Uhr die französisch-deutsche Grenze bei Saarbrücken. In ganz Deutschland gibt es Protestaktionen: Schienenspaziergänge, Fackelumzüge, Solidaritätskonzerte. Im Göhrde-Wald im Wendland liefern sich Hunderte ein Katz- und Mausspiel mit der Polizei. »Wir haben Barrikaden auf den Waldwegen gebaut und mit Wollknäulen Volleyball über den Schienen gespielt«, sagt Marie. Der Atommüllzug steckt bei Mannheim fest, ein Mann ist auf einen Castor-Waggon geklettert, Menschen sind auf den Schienen.

Am 26. November beginnt die Aktion »Castor schottern«. In mehreren Demofingern brechen Gruppen aus den Camps in Richtung Schienen auf. An einigen Stellen gelingt es, Schottersteine aus dem Gleisbett der für den Personenverkehr gesperrten Strecke zu räumen. Anderenorts treibt die Polizei die Schotterer mit Pferden und Tränengas zurück in den Wald. Zeitgleich tuckern Hunderte Trecker der Bäuerlichen Notgemeinschaft zur Großdemo bei Dannenberg. Viele tausend Menschen sind zu Fuß, mit Rädern oder Autos unterwegs, insgesamt versammeln sich 25 000 auf dem Acker in Sichtweite des Verladekrans.

»Schon während der Kundgebung machten sich viele auf den Weg, um die Schienen zu blockieren«, erzählt Wolfgang Ehmke. Bei Harlingen richten sie sich mit Strohballen, Schlafsäcken, Tee und heißer Suppe auf die Nacht ein. Journalisten schätzen ihre Zahl auf etwa 2500.

Die Polizei scheint überrumpelt und hat, wie der »Castorticker« schreibt, »an der Sitzblockade in Harlingen offenbar kapituliert«. Inzwischen sind auch zahlreiche Straßen im Wendland nicht mehr passierbar. Baumstämme, Steine, und quergestellte Autos blockieren die Fahrbahnen.

27. November, 3.30 Uhr. Die Polizei beginnt mit der Räumung der Schienen in Harlingen. »Wer nicht freiwillig aufstand, wurde weggeschleift«, sagt Marie. Unbemerkt sind derweil Landwirte mit einer 600 Kilo schweren Betonpyramide auf die Gleise gelangt. Vier von ihnen fixieren sich mit einer ausgeklügelten Konstruktion an dem Block. Auch Spezialeinsatzkräfte können das Hindernis nicht ohne ernsthafte Gefahr für die Bauern beseitigen.

Nach 14 Stunden gibt die Polizei auf. Die Blockierer beenden die Aktion freiwillig. Im Gegenzug fordern sie eine Erklärung der Gegenseite, die dann auch kommt: »Die Polizei sieht sich nach derzeitigem Stand in zumutbarer Zeit nicht in der Lage, die Personen unverletzt zu befreien.« Die umstehenden Demonstranten jubeln und singen »You are the champions«. An anderen Stellen wird bis zum Abend weiter blockiert, 1500 beteiligen sich an einer Sitzblockade in Gorleben. Der Konvoi erreicht um 21.50 Uhr das Zwischenlager. Bei den Protesten sind mehr als 200 Menschen verletzt worden, drei von ihnen schwer. Niedersachsens Innenminister Uwe Schünemann (CDU) spricht in der Nacht vom »härtesten Einsatz, seit Castor-Transporte stattfinden«.

»Es wurde offensichtlich, dass der Widerstand nicht bröckelte«, bilanziert Wolfgang Ehmke zehn Jahre später. Die früheren Umweltminister Sigmar Gabriel (SPD), Jürgen Trittin (Grüne) und Peter Altmaier (CDU) hätten sich nach dem Transport zu ihren »Küchengesprächen« getroffen. »Und es dämmerte ihnen, dass es so mit Gorleben nicht weitergehen konnte.« Resultat sei dann das neue Suchverfahren für ein Atommüllendlager gewesen.

Das entsprechende Gesetz kam 2013, 2017 erfolgte der Neustart der Endlagersuche. Im September 2020 flog der Salzstock Gorleben wegen geologischer Mängel aus dem Suchverfahren. Die Genehmigung des Zwischenlagers ist bis Ende 2034 befristet. Wird sie nicht verlängert, müssen die 113 Castoren bis dahin abtransportiert werden. Ein Endlager wird frühestens um das Jahr 2050 zur Verfügung stehen.

Werde Mitglied der nd.Genossenschaft!
Seit dem 1. Januar 2022 wird das »nd« als unabhängige linke Zeitung herausgeben, welche der Belegschaft und den Leser*innen gehört. Sei dabei und unterstütze als Genossenschaftsmitglied Medienvielfalt und sichtbare linke Positionen. Jetzt die Beitrittserklärung ausfüllen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.

- Anzeige -
- Anzeige -