Hauptsache betäubt

Die Dramaserie »Dopesick« macht die Epidemie leicht erhältlicher Schmerzmittel in den USA zur erschütterten Milieu-Studie

  • Jan Freitag
  • Lesedauer: 4 Min.

Drogen und Medikamente werden im deutschen Sprachgebrauch seit Ewigkeiten strikt voneinander getrennt. Im englischen Sprachgebrauch dagegen sind Drogen und Medikamente das Gleiche: Drugs. Das zu wissen, kann nicht schaden, wenn man sich die Serie »Dopesick« ansieht - geht es in der achtteiligen Serie doch um Medikamente, die eigentlich Drogen sind und umgekehrt. Schmerzmittel, um genau zu sein. Opioide, um noch genauer zu sein. OxyContin, um ganz genau zu sein.

Vor 25 Jahren als harmloses Opiat für den Alltagsgebrauch mit aller Marketingmacht unters Volk gebracht, hat es dem Hersteller 35 Milliarden Dollar Umsatz, der Nation indessen unbeschreibliches Leid gebracht. Gut 460 000 US-Bürger sind seit 1996 an Überdosen der leicht erhältlichen Pain Killer gestorben, während Millionen Überlebende physisch wie psychisch ruiniert wurden. Der Krieg skrupelloser Pharmakonzerne gegen die eigene Kundschaft, Opioid-Krise getauft, hat große Teile der Bevölkerung im Griff wie einst mittelalterliche Epidemien.

Die Geschichte von OxyContins »Siegeszug« ist demnach schon in der realen Welt von erschütternder Tragik. Dass er fiktional noch fassungsloser macht als die vielen Dokus wie »Recovery Boy« (Netflix) oder »Crime of the Century« (Prime), hat nun auch Michael Keaton erkannt. Nach einem Todesfall in der eigenen Familie produzierte sich der Ex-Batman die Hauptrolle auf den Leib einer Dramaserie, die naturgemäß ergreifender ist als pulitzerpreisgekrönte Tatsachenberichte wie Barry Meiers »Pain Killer«.

In »Dopesick« spielt Keaton den Landarzt Samuel Finnix, der im Bergbaurevier Virginias die Folgen des Niedergangs behandelt. Zu ihm kommen schließlich vor allem Kohlekumpel, die sich wie Betsy (Kaitlyn Dever) aus Angst vorm drohenden Jobverlust selbst verletzt noch zur Arbeit schleppen. Weil ihre Schmerzen nach einem Arbeitsunfall Mitte der Neunziger unerträglich sind, verschreibt Dr. Finnix Pillen, die ihm der überzeugende Pharmavertreter Billy Cutler (Will Poulter) untergeschoben hat: OxyContin.

Das, so erfahren wir in Zeitsprüngen von 1986 bis 2002, hat der Pharmakonzern Purdue ungeachtet aller Risiken und Nebenwirkungen mit PR-Milliarden zum Bestseller gemacht. Während die lesbische Betsy mit ihrer Sucht (und der Homophobie im bigotten Rust Belt) ringt, ermitteln jedoch zwei Bundesanwälte namens Ramseyer (John Hoogenakker) und Mountcastle (Peter Sarsgaard) mit der Polizistin Bridget Meyer (Rosario Dawson) gegen illegale Machenschaften des Purdue-Chefs Richard Sackler (Michael Stuhlbarg).

Da sich die Unternehmersippe derweil über ihre Profit- und Geltungssucht zerstreitet, wechselt der soziokulturelle Kampf David gegen Goliath allerdings nicht nur zwischen Kriminalthriller und Courtroom-Drama, sondern Familienepos und Milieustudie. Die Hauptfigur in dem ganzen Drama spielt der american way of capitalism, der für jedes Problem warenförmige Lösungen sucht - oder nach Problemen, um sie mit Lösungen profitabel zu machen. Abgesehen von aller menschlichen Tragik ist »Dopesick« somit eine Realfiktion in acht Akten über organisierte Kriminalität, die in den USA legal wird, sobald sie den Mächtigen Gewinne verspricht - gegebenenfalls auf dem Rücken der Ohnmächtigen.

Nachdem sein Sohn Sam die staatlich orchestrierte Opioid-Katastrophe bereits 2019 in der Serie »Euphoria« bebildert hatte, verlegt sie der oscarprämierte Regisseur Barry Levinson (»Rain Man«) als Pharma-Version des Chemie-Dramas »Erin Brokovich« deshalb von Kalifornien dorthin, wo das »Hillibilly-Heroin« noch fürchterlichere Verwüstungen anrichtet: in die Appalachen, ein Gebirgszug südwestlich der prosperierenden Nordostküste. Dort, wo Turbokapitalisten gottesfürchtige, konservative Malocher und ihre Familien so zur Besinnungslosigkeit sedieren, dass sie den Herrgott um Hilfe bitten, statt gegen reaktionäre Elite zu rebellieren.

Umso mehr ist es Levinson nach Drehbüchern von Emmy-Preisträger Danny Strong (»Empire«) zu verdanken, dass er die einfachen Leute dieser abgehängten Region nicht schuldig spricht, sondern zu Opfern ihrer Verzweiflung macht. Und Opfer einer Epidemie legaler Rauschgifte. Menschen, deren Gesundheit den Dealern weniger wert ist als der Toast, den ihre Dienstboten zum Frühstück servieren. »Er wurde oxikutiert«, sagt eine Frau den Bundesanwälten, die nun doch Hoffnung bringen und wegen gefälschter Studien recherchieren.

Läuft auf Disney+

Wir-schenken-uns-nichts
Unsere Weihnachtsaktion bringt nicht nur Lesefreude, sondern auch Wärme und Festlichkeit ins Haus. Zum dreimonatigen Probeabo gibt es ein Paar linke Socken von Socken mit Haltung und eine Flasche prickelnden Sekko Soziale – perfekt für eine entspannte Winterzeit. Ein Geschenk, das informiert, wärmt und das Aussteiger-Programm von EXIT-Deutschland unterstützt. Jetzt ein Wir-schenken-uns-nichts-Geschenk bestellen.

Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.

Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.

Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.

Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.