- Politik
- Armut in Guatemala
»Schon den Kleinsten fehlt es an Vitaminen«
In Guatemala setzt eine Fraueninitiative auf Gemüsegärten bei der Bekämpfung der Unterernährung
Seit Jahren trifft sich die Frauengruppe in dem guatemaltekischen Hochlanddorf Tecpán, um Erfahrungen auszutauschen oder um über Vorträge zu diskutieren. Doch seit Beginn der Pandemie hat keine größere Versammlung mehr stattgefunden. Nur manchmal und immer mit gebührendem Abstand treffen sich einige Frauen in Räumen einer Kirche, mitten im Zentrum von Tecpán. Der Ort war einer der ersten in Guatemala, in dem das Coronavirus viele Todesopfer gefordert hat.
Die Sozialarbeiterin Noemi de Castañeda hat sich schon lange vor der Pandemie Sorgen um die Ernährungssituation der ärmsten Familien gemacht. »Viele Kinder wissen gar nicht, was eine gesunde, ausgeglichene Ernährung ist«, klagt die ehrenamtlich engagierte Frau, die selbst drei Kinder hat. »Schon die Kleinsten bekommen nicht die Proteine und Vitamine, die ihre Körper brauchen, um zu überleben. Viele Familien essen vor allem billige Nudeln. Sie haben keine Milch, keine Suppen, nur Maistortillas.«
Olga Hohmann versteht nicht, was Arbeit ist und versucht, es täglich herauszufinden. In ihrem ortlosen Office sitzend, erkundet sie ihre Biografie und amüsiert sich über die eigenen Neurosen. dasnd.de/hohmann
Nirgendwo auf dem amerikanischen Kontinent ist die Ernährungslage so schlecht wie in den indigenen Gemeinden Guatemalas. Die Hälfte der guatemaltekischen Kinder ist chronisch unterernährt, aber unter der Mayabevölkerung liegt der Anteil noch einmal deutlich höher. Gerade im vergangenen Jahr haben Hunger und extreme Armut auf Grund der Coronakrise weiter zugenommen, berichtet die Fachzeitschrift »The Lancet« der Yale Universität. In ihrer Studie kritisieren die Autor*innen, dass kein anderes Land Lateinamerikas so wenig in seine junge Generation investiert wie Guatemala. Nur 0,4 Prozent des Bruttoinlandsprodukts fließt in öffentliche Fürsorge für Kinder. So kann es nicht gelingen, dass auch die ärmsten Familien eine kindgerechte Entwicklung sicherstellen.
Wenn Noemi de Castañeda eine der ärmeren Siedlungen in Tecpán besucht, geht sie zuerst durch lebhafte, gut asphaltierte Straßen, vorbei an Läden, in denen Eisenwaren, Spielzeug, gebrauchte Kleider oder Werkzeuge zum Verkauf angeboten werden. Doch schon ein paar Straßenblocks weiter hebt der Wind feinen Staub von der Sandpiste. Bald führen steile Pfade einen Hügel hinauf, vorbei an kläffenden Hunden und kleinen Grundstücken hinter Zäunen aus Sperrholz und rostigem Draht. Während einer Verschnaufpause sagt Noemi de Castañeda: »Wir sind auf dem Weg zu einer Hütte, in der sieben Geschwister leben. Bei meinem ersten Besuch vor sechs Jahren hatte die Familie buchstäblich nichts zu essen. Der Vater ist Alkoholiker. Ich musste drei der Kinder aufwecken, um sie mit Grundnahrungsmitteln zu füttern; ein Haferflockengetränk, Maistortillas und hartgekochte Eier. Dieses Frühstück war der Anfang unserer Beziehung.«
Die resolute Frau klopft an eine rostige Wellblechplatte, die als Tür dient. Im nächsten Augenblick öffnet eine freudestrahlende junge Frau die Tür. Die 19-jährige Lesly bietet ihrer Mentorin einen Platz auf einem zerfransten Sofa an und eine Tasse Tee. »Wir wohnen hier zu neunt«, sagt Lesly. »Mein Vater, meine sechs Geschwister, ich und meine Tochter. Sie ist zwei Jahre alt.« Lesly ist alleinerziehende Mutter und Schwester. Ihre eigene Mutter ist vor fünf Jahren gestorben. Auf die Hilfe ihres Vaters kann sie nicht zählen. »Oft haben wir nicht genug Geld, um alles Notwendige für den Haushalt zu kaufen.«
Lesly ist erst wenige Minuten vor dem Gespräch nach Hause gekommen. Am frühen Morgen ist sie zusammen mit drei ihrer jüngeren Geschwister in der Dunkelheit aus dem Haus gegangen. In dieser Woche hatten sie Glück; ein Nachbar hat ihnen Arbeit für fünf Tage gegeben. Sie müssen einen Acker umgraben. Noemi de Castañeda erklärt: »In dieser Gegend ist es normal, dass schon Acht-, Neunjährige mit Spitzhacken auf die Felder der Umgebung gehen. Seit Beginn der Pandemie bekommen die meisten Kinder keine Schulbildung mehr, weil das Bildungsministerium keine Strukturen aufgebaut hat, um ihnen zu helfen. Die Konsequenzen werden noch sehr lange zu spüren sein, in der Wirtschaft und vor allem in der Ernährung der Bevölkerung. Die Armut vieler Familien hat sich verfestigt.«
Eigentlich müsste sich der guatemaltekische Staat deutlich mehr um die Bekämpfung der Unterernährung kümmern. Das wäre auch möglich, denn in den Jahren vor Corona hat das bevölkerungsreichste Land Mittelamerikas eine positive Wirtschaftsentwicklung erlebt. Trotzdem ist Guatemala in der Armutsbekämpfung zurückgefallen. Relativ zu der Größe der Volkswirtschaft sind die öffentlichen Ausgaben in den Bereichen Bildung und Gesundheit nirgendwo sonst auf der Welt so gering wie hier. Das liegt vor allem daran, dass in keinem anderen Land so wenige Steuern bezahlt werden. Berichten der Weltbank zufolge liegt die Steuerquote in Guatemala bei nur zwölf Prozent. Im Durchschnitt aller Länder Lateinamerikas liegt der Anteil des Steueraufkommens am Bruttoinlandsprodukt bei 26 Prozent.
Wenn Lesly und ihre Geschwister mehrere Tage lang kein Geld verdienen, haben sie nichts mehr zu essen: »Was soll ich den Kleinen sagen, wenn sie traurig sind und mich fragen: ›Was können wir essen?‹ Es gibt doch nichts. Aber mit Gottes Hilfe haben wir es bisher immer irgendwie geschafft.«
Lesly macht sich große Sorgen um ihre kleine Tochter, die kurz vor Beginn der Pandemie zur Welt gekommen ist. »Ich konnte ihr nicht lange die Brust geben, weil ich nur wenig Milch hatte. Jetzt habe ich Angst, dass sie sich nicht ordentlich entwickelt.«
Ein weiterer Sorgenfall ist ihre Schwester Belén. Das siebenjährige Mädchen war schon bei der Geburt sehr klein und ist dann nicht richtig gewachsen. Noemi de Castañeda hat das Kind das erste Mal gesehen, als sie gerade sechs Monate alt war. »Ich habe sie sofort in das Ernährungszentrum in Tecpán gebracht. Dort hat sie innerhalb einer Woche drei Pfund zugenommen. Aber ihr Problem konnte nicht nachhaltig gelöst werden, weil die Eltern nicht geholfen haben.«
Belén spricht nur einzelne Worte und kann nur wackelig auf ihren dürren Beinchen laufen. Wer weiß, ob sie ohne die Hilfe ihrer ältesten Schwester überlebt hätte. »Ich bin wie eine Mutter für meine Geschwister«, sagt Lesly. »Seit dem Tod unserer Mutter habe ich mich um sie gekümmert. Schon als kleines Kind musste ich im Haushalt helfen. Heute suche ich immer nach Lösungen, um den Kleinen was zu essen zu geben, auch wenn ich selbst nichts habe. Wenn ich kann, gebe ich ihnen etwas. Gott unterstützt mich. So haben meine Geschwister und meine Tochter überlebt. Mein Vater vergisst uns oft. Ihm ist es egal, ob wir essen oder nicht. Wenn wir ihn um etwas bitten, sagt er nur, er habe selbst nichts und verschwindet auf der Straße. Manchmal kommt er erst Tage später zurück.«
Als sich die Ernährungssituation vieler Familien zu Beginn der Pandemie deutlich verschlechtert hat, überlegte Noemi de Castañeda mit einigen Mitgliedern ihrer Gruppe, was zu tun sei. »Wir haben beschlossen, ein Kleingärtenprojekt ins Leben zu rufen. Heute unterstützen wir 15 Familien, die neben ihrem Haus zumindest ein kleines Stück Erdboden haben. Wir haben ihnen beigebracht, Gemüse anzupflanzen, Zwiebeln, Salat, Blumenkohl, Rote Bete, Radieschen. So haben sie gelernt, eigene Nahrungsmittel anzubauen.«
Ziel des Projekts ist es, den Familien zu helfen, ein selbstbestimmtes Leben zu führen. Einen Teil der Ernte essen sie selbst und einen anderen Teil verkaufen sie in der Frauengruppe. Lesly ist begeistert von dem Ergebnis: »Wenn wir was essen wollen, brauchen wir es nur im Garten abzuschneiden. Das erste Saatgut haben wir geschenkt bekommen. Den Dünger auch. Mit der Ernte können wir unsere Ernährung aufbessern. Das Gemüse hat viele Vitamine und schmeckt gut. Wir machen Salate und Suppen mit Mangold. Das ist gesund.«
Noemi de Castañeda ist stolz auf das Projekt und auf Lesly: »Sie wartet nicht auf Almosen, sondern sucht selber nach Lösungen. So macht das Helfen Spaß.«
Noemi de Castañeda sieht es als ihre christliche Pflicht an, ihren notleidenden Nächsten zu helfen. Doch es ist ihr sehr wichtig, keine karitative Hilfe zu leisten, sondern Hilfe zur Selbsthilfe. »Viele Leute haben etwas beigesteuert. Zum Beispiel hilft uns eine Krankenschwester, das Gewicht und die Größe der Kinder zu messen, damit wir einigermaßen wissen, ob ihre Werte normal sind. Für unterernährte Kinder, die älter sind als fünf Jahre, ist es eigentlich schon zu spät. Sie haben irreversible Schäden. Aber bei den Kleinsten im Alter von null bis fünf Jahren kann man noch etwas erreichen.«
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