- Politik
- Coronakrise
Coronaleugner von der Leine
Entsetzen nach Aufmarsch vor Privathaus von Sachsens Gesundheitsministerin
Am Freitagmittag gab Sachsens Innenminister Roland Wöller (CDU) eine Erklärung ab. Er bescheinigte manchen Kreisen im Freistaat eine »zunehmende Enthemmtheit, Gewaltbereitschaft und Entmenschlichung von politischen Gegnern«. Der Rechtsstaat, fügte er hinzu, müsse dieser Entwicklung »mit allen verfügbaren Mitteln begegnen«.
Dieses Statement wäre am Abend des Tages passend gewesen. Da marschierten 30 Coronaleugner mit Fackeln vor dem Privathaus von SPD-Gesundheitsministerin Petra Köpping in Grimma auf und skandierten Parolen. Videos des Vorfalls zeigen gespenstische Szenen. Erst nach einiger Zeit erschien die Polizei, nahm Personalien auf und stellte Anzeigen wegen Ordnungswidrigkeiten in Aussicht. Wöller äußerte sich viele Stunden später. Seine Erklärung vom Freitag galt hingegen dem Linksextremismus. Dieses Thema - und nicht die Gefahr durch radikalisierte Corona-Proteste - hatte er auf die Agenda der Innenministerkonferenz setzen lassen.
Viele andere Politiker in Bund und Land äußerten sich sehr schnell und sehr empört über den Aufmarsch bei Köpping. Winfried Kretschmann, grüner Regierungschef in Baden-Württemberg, sprach im »Deutschlandfunk« von »Methoden, die hat die SA erfunden«. SPD-Generalsekretär Lars Klingbeil sagte: »Sie wollen uns mundtot machen. Aber das wird ihnen nicht gelingen!« Er forderte eine »Antwort mit der vollen Härte des Rechtsstaats«. Sabine Leutheuser-Schnarrenberger (FDP), einst Bundesjustizministerin, sprach von »widerwärtiger Einschüchterung«. Sachsens CDU-Ministerpräsident Michael Kretschmer erklärte seine »volle Solidarität« mit seiner Ministerin: »Was ihr passiert, geht uns Sachsen alle an!« Köpping selbst nannte die Aktion »widerwärtig und unanständig«. So etwas seien »organisierte Einschüchterungsversuche von Rechtsextremisten und Verschwörungsgläubigen«.
Die gibt es in Sachsen schon länger. Im Januar hatte Coronaleugner bereits den Ministerpräsidenten vor seinem Haus im Zittauer Gebirge »aufgesucht«. Bedrohungen gebe es, wie Köpping anmerkte, auch gegen Arztpraxen, Krankenhäuser, Impfzentren und Rathäuser. Coronaleugner marschierten selbst vor Schulen auf. Letzte Woche wurde publik, dass in Zittau ein Testzentrum nach massiven Pöbeleien schließt. Im Vogtland gab es vor Monaten einen Brandanschlag auf ein Impfzentrum. Sachsens Verfassungsschutzchef Dirk-Martin Christian warnt vor einer »fortschreitenden Radikalisierung« der Coronaproteste. Die haben im Freistaat besonders viel Rückhalt. Einer aktuellen Studie zufolge gehören 22 Prozent der Bürger zum harten Kern der Coronaleugner, die für Argumente nicht mehr empfänglich sind.
Der jetzige Vorfall verleiht der Frage Nachdruck, wie der Staat reagieren soll. Bisher ist von Härte nichts zu spüren. Das zeigt sich besonders bei den Demonstrationen, die die von Rechtsextremisten dominierte Gruppierung »Freie Sachsen« seit Wochen in vielen sächsischen Städten organisiert. Die Polizei lässt sie oft gewähren. Obwohl die geltende Corona-Notverordnung nur stationäre Kundgebungen mit zehn Personen erlaubt, liefen vorigen Montag rund 1000 Menschen durch Freiberg. Die linke Landtagsabgeordnete Kerstin Köditz konstatiert einen »Kontrollverlust« des Staates.
In der Kritik steht vor allem der Innenminister. Wöller erklärte, die »Unvernunft von vielen« lasse sich nicht mit polizeilichen Mitteln bekämpfen. Zwar dürfe nicht der Eindruck entstehen, die Polizei schaue »tatenlos zu«. Gewalt sei aber »nicht das Mittel der Wahl«. Dagegen drängen die Koalitionspartner auf entschlossenes Handeln. Henning Homann, Co-Landeschef der SPD, sagte, seine Partei fordere seit Monaten konsequenteres Vorgehen gegen Querdenker. Es sei zu wenig passiert: »Der Innenminister muss endlich die richtigen Prioritäten setzen.« Justizministerin Katja Meier (Grüne) drängte nach dem »absoluten Tabubruch« vom Freitag, Polizei und Innenministerium müssten »endlich alles daran setzen, diesen Entgrenzungen konsequent zu begegnen«.
Experten warnen vor einer weiteren Eskalation, sollte das nicht geschehen. Der Sozialwissenschaftler Oliver Nachtwey schrieb auf Twitter, die Politik in Sachsen habe die aktuelle Situation hervorgerufen: »Autoritäre Rebellen ... fühlen sich durch die permissive, ›besorgte Bürger verstehende‹ Politik bestätigt, glauben, dass ›etwas nicht stimmt‹, und fühlen sich ermuntert.« David Begrich vom Verein »Miteinander« Magdeburg sagte, Rechtsextremisten gehe es stets darum, »die Grenzen dessen zu testen, was eine Sanktion nach sich zieht«. Erfolgten solche nicht, griffen sie » zum nächsten eskalativen Mittel«.
Wir behalten den Überblick!
Mit unserem Digital-Aktionsabo kannst Du alle Ausgaben von »nd« digital (nd.App oder nd.Epaper) für wenig Geld zu Hause oder unterwegs lesen.
Jetzt abonnieren!
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.
Vielen Dank!