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Immer die Fakten sprechen lassen
Die freundliche Angela Merkel hinterlässt auch reale Verwerfungen
Es wird noch eine Weile schwerfallen, die Wortkombination aus Bundeskanzler und Olaf Scholz über die Lippen zu kriegen. Aber so etwas spielt sich ein. Wie sich die Klischees eingespielt haben, die der scheidenden Regierungschefin nun nachgeworfen werden. Von Angela Merkels »Fahren auf Sicht«, das ein strategisches, visionäres Herangehen an Politik verhindert habe, und dem Gespür für Macht, mit dem sie die Männer in ihrer politischen Umgebung in Schach gehalten habe. Oder das Denken vom Ende her, das sie beherrsche wie sonst niemand.
Das mag alles zutreffen. Doch bleibt bei diesen Stilübungen die Frage unbeantwortet, ob Angela Merkel gut war als Kanzlerin. Oder auch: für wen sie gut war. Denn zum Beispiel: Obwohl sie die erste Frau an der Spitze einer Bundesregierung war, und obwohl sie eine Ostdeutsche war - die Lage der Frauen hat sich in ihrer Regierungszeit nicht wirklich verbessert. Und die der Ostdeutschen trieb sie nie um. Unmerklich höchstens. Sicher, inzwischen lassen die Beben infolge des Wirtschaftszusammenbruches im Osten nach, aber 30 Jahre seit der Wende sind halt auch eine lange Zeit, und 16 Jahre Merkel haben den Abwärtstrend nicht umgekehrt.
Die Abwanderung aus den Bundesländern Ost in den Westen ist erst in den letzten Jahren abgeebbt; mit der Kanzlerschaft Angela Merkels hatte dies wenig zu tun. Im Gegenteil: Dass eine ostdeutsche Frau 16 Jahre lang die Regierungsgeschäfte der Bundesrepublik führte, ist ein seltsames Paradoxon, das ganz und gar nicht mit der Lage ihrer Geschlechtsgenossinnen im Osten harmonierte. Statistisch lesbar ist, dass 55 Prozent aller seit 1989 in den Westen abgewanderten Ostdeutschen Frauen waren, die meisten davon junge Frauen. Das wirtschaftliche Desaster traf sie halt zuerst. Auf Merkels Konto geht hingegen die Abschaffung der in der DDR geltenden Fristenlösung bei Schwangerschaftsabbrüchen, die sie als junge Bundesministerin für Frauen und Jugend im Kabinett Helmut Kohls durchsetzen half.
Immerhin, es sind zu ihrem Abschied kaum böse Worte über Angela Merkel zu hören, abgesehen von denen, die von ganz Rechts kommen. Auch so ein seltsames Phänomen. Merkels Partei, die CDU, ist in den 18 Jahren unter ihrem Vorsitz und den 16 Jahren ihrer Kanzlerschaft ein Verein geworden, der von anderen Parteien immer weniger zu unterscheiden ist. Seit alle Parteien sich zu Interessenvertretern der Mitte erklärt haben, ist auch nach rechts viel Platz entstanden. In diesen Gefilden lauert wohl auch die größte Enttäuschung über die Merkel-Partei. Und der größte Frust.
Abseits davon sind auch ehemalige erklärte Gegner heute des Lobes voll. Horst Seehofer, der als CSU-Chef das Kriegsbeil ausgegraben und die Kanzlerin bekämpft und vorgeführt hatte, als sie 2015 mit dem Satz »Wir schaffen das« einige Hunderttausend Flüchtlinge ins Land ließ, statt die Grenzen dichtzumachen, wie er es verlangte, sprechen heute in den höchsten Tönen von Merkel. Eine »politische Ausnahmeathletin« nennt sie der mit ihr aus der Regierung scheidende Bundesinnenminister inzwischen, die ihr Amt mit unglaublicher Präzision und Hartnäckigkeit geführte habe, und dass er in 50 Jahren Politik kaum jemanden von Merkels Format getroffen habe. Da staunt, wer sich noch an jenen Seehofer erinnert, der der Kanzlerin vorwarf, in Deutschland eine Herrschaft des Unrechts errichtet zu haben.
Wolfgang Schäuble, zuletzt Bundestagspräsident und Minister in mehreren Regierungen Merkels, lobte in einem Beitrag Merkels »auf Ausgleich ausgerichteten Politikstil, der auch unter Nachbarn und Partnern für Vertrauen und Zutrauen in unser Land sorgte«. Das ist vielleicht Merkels tatsächliches Verdienst, in mehreren Krisen dafür gesorgt zu haben, dass der Laden nicht gegen die Wand fuhr. Oder wie Sigmar Gabriel es formulierte, dass das Land »in einer Zeit vieler Krisen« unter der Kanzlerschaft Merkel stabil geblieben sei. Schäuble war immerhin jener CDU-Vorsitzende, den Merkel im Jahr 2000 wegen der Parteispendenaffäre von der Spitze verdrängte. Und Gabriel einige Jahre Parteichef der SPD, die im direkten Ringen mit der Union immer wieder den Kürzeren zog, weshalb seine Partei dreimal als sogenannter Juniorpartner in einer Großen Koalition mit dem angeblichen Gegner landete, der deshalb für niemanden mehr als Gegner zu erkennen war, nicht einmal für Gabriel.
Die Corona-Verwerfungen zeigen, wie fragil die gesellschaftlichen Verhältnisse sein können, wie leicht irritierbar. Eine Kanzlerin wie Merkel wirkt da zweifellos als Ruhepunkt - selbst in Zeiten jäher Wendungen. Auch solche gab es bekanntlich mit ihr - als sie im Angesicht der Reaktorkatastrophe von Fukushima die gerade beschlossene Laufzeitverlängerung deutscher Kernkraftwerke rückgängig machte und einen Kurswechsel einleitete. Zu langsam oder nicht, sie tat es. Von fragwürdigem Langmut hingegen war sie, als bekannt wurde, dass die NSA jahrelang die deutsche Regierungspolitik ausspähte und dabei auch nicht vor ihrem, dem Handy der Kanzlerin haltmachte.
Und hier beginnt die Bilanz der in sich ruhenden Politikerin, ihre Schattenseiten zu offenbaren. Die hochgelobte Garantin für Stabilität und Verlässlichkeit Deutschlands im Wertekanon des Westens hatte eben auch jene Vasallentreue zur Folge, die Merkel zur Unterstützerin des Irakkrieges der USA werden ließ, dem sich ihr Amtsvorgänger Gerhard Schröder trotz erklärter uneingeschränkter Solidarität mit dem »Kampf gegen den Terror« verweigerte.
Auch die Russlandpolitik der Kanzlerin kann man kritisch sehen, trotz ihrer Russischkenntnisse, der Entscheidung für und Verteidigung der Nord-Stream2-Gaspipeline und mancher Versuche, den Gesprächsfaden mit Moskau nicht abreißen zu lassen. Dass die eigenwillige Position Polens und der strategische Druck der Nato ihren Teil zu den wachsenden Spannungen östlich der deutschen Grenzen beitragen, mindert nicht die Verantwortung der deutschen Regierungschefin, die am Ende jene Weltsicht exekutierte, die die neue Verantwortung ihres Landes eben immer auch als Anspruch auf größtmögliche Dominanz versteht, samt militärischer Begleitmusik.
Auch große Teile der Bevölkerungen in Griechenland, Italien oder Spanien haben die Folgen des deutschen Diktats in der Finanzkrise am eigenen Leib zu spüren bekommen. Die Politik Merkels und ihres Finanzministers Wolfgang Schäuble exekutierte erbarmungslos jene neoliberalen Regeln, die der Wirtschaft im Allgemeinen Ellbogenfreiheit gegenüber dem Staat und der deutschen Exportwirtschaft im Besonderen die Übervorteilung der Konkurrenz garantierten. Dramatisch sinkende Löhne und Renten in den Ländern, die den Reformvorstellungen der deutschen Regierung und der unter ihrem Einfluss stehenden EU-Institutionen nicht genügten, waren die Folge.
Die Agendareformen der rot-grünen Koalition Anfang der 2000er Jahre gingen Merkel damals auch nicht weit genug, sie stimmte ihnen zu und verlangte von allen neoliberalen Zumutungen noch mehr. Die Ostdeutschen sahen es mit Staunen. Denn Angela Merkel, die Physikerin mit Arbeitsplatz in der Akademie der Wissenschaften der DDR, war eine durchschnittliche junge Frau, eine spät in die Politik Gestartete, eine ohne Lizenz für das große Wort oder die große Politik. Auch die in der DDR geltenden politischen Grundsätze schienen sie nicht derart umzutreiben, dass sie sich in die Opposition getrieben sah. 70 Prozent Opportunismus, so beschrieb sie ihre DDR-Sozialisation 1991 in einem Interview mit Günter Gaus. Wie viel Prozent Opportunismus mochten nun in der 100-prozentigen Radikalmarktgläubigen schlummern?
Sie hielt an ihrer radikalen Haltung fest, solange es ihr geboten schien. Doch wie Merkel selbst wiederholt geltend machte, wenn es um die Beurteilung ihres Regierungsstils ging: Die Fakten müssen entscheiden. Als Physikerin habe sie gelernt zu beobachten, bevor es zu entscheiden galt. Als Regierungschefin sah Merkel sich nach drei Jahren mit Fakten konfrontiert, die auch das Fortkommen der Wirtschaft bedrohten. Reale Daten waren es im Jahr 2008, die der eigenen Überzeugung von der Selbstregulierungsmacht des Marktes zuwiderliefen. Als die Wirtschaft lahmte, griff Merkel und mit ihr der Staat in die Speichen. Ein Kurswechsel war dies, zumindest eine Pause in Merkels neoliberaler Agenda, samt folgender Bankenrettung der Hypo Real Estate und staatlichen Konjunkturprogrammen plus Abwrackprämie. In solcher Situation gefällt das auch Neoliberalen.
Der Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung lieferte in Merkels Regierungszeit regelmäßig Fakten, die ihr hätten zu denken geben müssen. 20 bis 25 Prozent der Kinder in Deutschland sind von Armut betroffen; von 2,55 Millionen Kindern spricht der Kinderarmutsbericht des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts. Die Zahlen sind in den vergangenen 16 Jahren nicht besser geworden.
Der Niedriglohnsektor in Deutschland hält einen großen Teil der Menschen in Armut, jeder fünfte Vollbeschäftigte in diesem Land muss sich hier sein Brot verdienen. Einem Mindestlohn verweigerte sich Merkel an der Spitze ihrer Partei und auch an der Spitze ihrer Regierungen lange - bis 2014. Er wird seinem Namen kaum gerecht, wenn man den realen Wert der Arbeit zugrunde legt, die Menschen leisten und sich davon häufig trotzdem kein auskömmliches Leben finanzieren können.
Und auch das ist sicher keine Randnotiz bei der Beurteilung einer Bundeskanzlerin, die 16 Jahre lang die Geschicke des Landes entscheidend mitbestimmte: Der Reichtum der Auserwählten, die ihr Vermögen meist nicht erarbeiteten, sondern erbten, stieg in dieser Zeit sprunghaft an. Laut »Manager Magazin« gibt es in Deutschland mittlerweile 213 Milliardäre, allein in den letzten zwei Jahren legten die Buchvermögen der hundert Reichsten um 116 Milliarden Euro auf 722 Milliarden Euro zu - in absoluten Zahlen ein neuer Rekord. Einer angemessenen Beteiligung dieser Schicht der Bevölkerung durch entsprechende Steuern und Abgaben verweigerte sich Merkel samt ihrer Partei standhaft.
Die Begeisterung ist also geteilt, auch wenn das allgemeine Lob in diesen Tagen einen etwas anderen Eindruck vermittelt. Es ist ja auch keineswegs so, dass die 16 Jahre der Regentschaft Merkels Folge einer die Wählerschaft begeisternden und bei Wahlen kraftstrotzenden CDU gewesen wären. Die CDU verliert seit Jahren wie die SPD an Zustimmung, und ihre Wahlsiege hatte Merkel der Tatsache zu verdanken, dass der Schwund bei der SPD rascher voranschritt.
Lag die Union bei der Bundestagswahl 2002 noch bei 38,5 Prozentpunkten, landete sie 2017 bei gerade noch 32,9 Prozent. Die Bundestagswahl dieses Jahres bescherte der Union schließlich magere 24,1 Prozent. Auch für diese Entwicklung muss sich Angela Merkel Fragen nach ihrem eigenen Anteil stellen lassen, wenngleich sie in anderen europäischen Ländern Parallelen findet. Die Parteien werden immer verwechselbarer, und die Menschen sind zunehmend verunsichert beziehungsweise mit allen Politikangeboten unzufrieden.
Neue Chefinnen für Polizei und Soldaten. Das künftige Bundeskabinett wird diverser sein. Zu befürchten ist aber, dass es auf eine aggressivere Außenpolitik setzen wird
Gerade in dieser Melange aber konnte die Bundeskanzlerin immer ihre Stärke ausspielen, die auf den ersten Blick wie eine Schwäche schien. Das zurückhaltende, beinahe etwas unbeholfene Abwarten, das dem überlauten Gegenüber nicht gewachsen schien. Das war sympathischer, weil glaubwürdiger als das Gehabe testosterongesättigter Amtsvorgänger. Es machte sie scheinbar verletzlich, und der Betrachter drückte die Daumen, dass sie sich durchsetzen möge. Über die Fakten sollte die sympathische Seite der scheidenden Kanzlerin allerdings nicht hinwegtäuschen. Das dürfte schließlich ganz in ihrem Sinne sein.
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