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»Der nächste Golf darf kein Tesla sein!«
Das neue Werk in Grünheide sorgt im Stammland der ungebremsten Raserei für große Unruhe
Im Jahr 1912 wurden die deutschen Automobilhersteller bei der kaiserlichen Regierung vorstellig und baten um Schutz vor der US-amerikanischen Konkurrenz. Ihre Produkte waren immer weniger konkurrenzfähig, obwohl die Fließbandproduktion bei Ford erst im darauffolgenden Jahr starten würde, mit der es gelang, die Produktionszeit für das Modell T von 12 Stunden auf 93 Minuten zu senken. Bereits acht Jahre später waren über die Hälfte aller Autos auf der Welt Modell Ts, von denen es nur eine Variante gab. Daimler bot im selben Jahr 57 verschiedenen Modellvarianten an, und war schon deshalb nicht in der Lage, auf Fords neue Produktionsweise umzusteigen.
Dieser Artikel stammt aus OXI - Wirtschaft anders denken. OXI ist eine ökonomiekritische Monatszeitung, die exklusiv für nd-Abonnent*innen in »nd DIE WOCHE« beiliegt. Es liefert ökonomische Hintergründe und Analysen. Mehr über OXI gibt es hier.
Dieser Tage startet nach Rekord-Bauzeit die Autoproduktion im Tesla-Werk in Grünheide bei Berlin. Angepeilt ist hier eine Jahresproduktion von einer halben Million Fahrzeugen, das ist mehr als doppelt so viel wie die gesamte Jahresproduktion aller deutschen Hersteller zusammen. Und mehr als die derzeit in Deutschland insgesamt zugelassenen 439.000 batterieelektrisch betriebenen Fahrzeuge (Stand 1. Juli 2021). Damit dringt das lange belächelte Elektroauto-Start-up aus dem Silicon Valley auch vom Volumen her in den Bereich der klassischen Autohersteller vor. Hierzulande wird Teslas Rolle als Initiator und Beschleuniger des Umstiegs auf elektrischen Antrieb bei privaten Pkw mittlerweile anerkannt, doch möglicherweise gibt sich Tesla mit der Rolle als Impulsgeber, der den Großen den Massenmarkt überlässt, nicht zufrieden.
Und wieder kündigt sich eine ähnliche Situation wie 1912 an, die deutschen Hersteller haben den Umstieg auf die Elektroautomobilität verschlafen und laufen hinterher. Sie erzielen zwar immer noch grandiose Umsätze, dies allerdings fast ausschließlich mit Verbrennern. Deren Tage sind jedoch gezählt. »In 10 Jahren wird es keine Produktion von Autos mit Benzin mehr geben«, zeigt sich kürzlich die Pariser Bürgermeisterin und Präsidentschaftskandidatin Anne Hidalgo überzeugt. Der Diesel findet bei ihr gar keine Erwähnung mehr.
Doch selbst bei uns, im Stammland des Automobils, des »sauberen Diesels« und der ungebremsten Raserei auf der Autobahn, bricht sich das automobile Elektrozeitalter Bahn. Im September wurden erstmals mehr reine E-Fahrzeuge als dieselbetriebene zugelassen – ein historischer Moment. Um ein Haar hätte das Tesla-Modell 3 gar den Golf von der Spitze der Zulassungsstatistik verdrängt. Das hat es seit 1912 nicht mehr gegeben: Ein US-amerikanisches Import-Auto, das zudem noch in China gebaut wird, mischt den heimischen Markt auf – und das, obwohl die Produktion in Grünheide noch gar nicht angelaufen ist.
Auch auf dem wichtigsten deutschen Exportmarkt braut sich ein perfekter Sturm zusammen. Volkswagen konnte zwar im vergangenen Jahr (zusammen mit seinem chinesischen Partner UAW) stolze zwei Millionen verbrennungsmotorisierte Fahrzeuge verkaufen und war damit der erfolgreichste ausländische Hersteller. Doch auch in China stagniert der Markt für fossil angetriebene Pkw. Im August gingen die Verkäufe gegenüber dem Vorjahr um 15 Prozent zurück. Bei Elektroautos stiegen hingegen im gleichen Zeitraum die Verkäufe um 175 Prozent, bei Tesla sogar um 375 Prozent.
Bei den Verkaufszahlen von Elektroautos in China belegt Tesla mit Modell 3 und Modell Y die Plätze zwei und drei, demgegenüber schafft es kein deutsches Unternehmen in die Top Ten. Auf Platz 17 firmiert der bereits in die Jahre gekommene BMW i3, dessen Produktion nächstes Jahr ausläuft, Volkswagen ist mit 7.023 verkauften ID-Modellen weit abgeschlagen. Teslas Marktanteil liegt in China bei rund 10 Prozent, deutsche Unternehmen verkaufen hingegen so gut wie gar keine batterieelektrischen Fahrzeuge in China.
Tesla ist technologisch führend in allen relevanten Bereichen rund um das elektrische Auto, von der Batterieeffizienz über die Antriebstechnik und die Ladeinfrastruktur bis zum Chip-Design, von der Software ganz zu schweigen. Der US-amerikanische Automobilexperte Sandy Munro attestiert Tesla einen Vorsprung von im Schnitt fünf Jahren in allen relevanten technologischen Bereichen. »Die größten Stärken von Tesla sind Batterien, Elektromotoren und Elektronik. Ihre Elektronik ist allen vielleicht um fünf bis zehn Jahre voraus.«
Die vertikale Integration, also die Länge der Wertschöpfungskette, ist bei Tesla im Vergleich zu den Autoherstellern viel ausgeprägter. Tesla kontrolliert die gesamte Wertschöpfung von Batterie- und Karosserieherstellung bis zum Vertrieb, der Software und den Kundenbeziehungen. Von Batterieproduktion über eigene Legierungen bis hin zu Aktivitäten auf dem Strommarkt reicht die Spannweite. Tesla verfügt über das weltweit ausgereifteste Ladenetzwerk (Supercharger) und ist seit Jahren im Markt für Speicher-Akkus und Photovoltaik-Systeme aktiv. Tesla hat kein Händlernetz, das Auto kann online konfiguriert und bestellt werden. Seit 1. Oktober bietet das Unternehmen in Texas und Kalifornien auch Versicherungen an, der Prämie werden dabei ausschließlich Fahrdaten des einzelnen Kunden zugrunde gelegt – eine Weltpremiere.
Tesla als konkurrierenden Autohersteller ernst zu nehmen genügt allerdings bei Weitem nicht. »Mit dem kalifornischen Unternehmen hat sich ein Wettbewerber auf dem Markt etabliert, der den Automobilbau mit den neuen Geschäftsmodellen der Internetunternehmen betreibt.« Das schreiben die Münchner Experten Andreas Boes und Alexander Ziegler in einer Studie.
Teslas vielleicht wichtigste Wettbewerbsvorteile liegen in der eines Digitalkonzerns würdigen Softwarekompetenz, im konsequenten Design des Produkts als softwaregetriebenes sowie in einer agilen Start-up-Unternehmenskultur, die es letztlich erlaubt, binnen Monaten auf Kritik zu reagieren und nicht den nächsten Modellwechsel abwarten zu müssen, um Produktverbesserungen an die Kunden weiterzugeben. Andreas Boes spricht in diesem Zusammenhang von einer »neuen Produktionsweise«, in der nicht mehr das Ingenieurprodukt Auto im Mittelpunkt steht.
Das Produkt ist kein Auto mit einem anderen Antrieb, es ist von Grund auf anders konzipiert: Im Zentrum steht ein Hochleistungscomputer, auf dem ein selbstentwickeltes Betriebssystem läuft und der ständig mit Teslas Servern verbunden ist. Der Zentralrechner steuert sämtliche Funktionen der automobilen Hardware. Softwareupdates und Wartung geschehen, wie wir das von anderen digitalen Geräten gewohnt sind, over the air bzw. als Fernwartung.
Die traditionellen Hersteller versuchen Tesla mittlerweile nachzueifern, z.B. beim »Betriebssystem fürs Auto«. Alle Hersteller arbeiten fieberhaft daran, die in der Vergangenheit verfolgte Strategie der Auslagerung von Funktionalitäten in viele unterschiedliche dezentrale Steuergeräte zu revidieren, hatten sie doch auf das Auslagern ganzer Funktionsgruppen an Zulieferer gebaut, um Kosten zu sparen. Tesla hat demgegenüber von Anfang an auf eigene Hardware und Software gesetzt, ist deshalb auch von den gegenwärtigen Chip-Lieferengpässen weniger betroffen als andere Hersteller: Sie verwenden Eigenentwicklungen und benötigen nur ca. halb so viele Computerchips, wie sie etwa Volkswagen im ID4 verbaut. Tesla kann sich – ebenso wie all die anderen reinen Elektroautohersteller, die unter anderem aus China kommen – voll und ganz auf eine Antriebstechnologie konzentrieren, und wird dort vermutlich seinen Vorsprung nicht nur halten, sondern sogar ausbauen können.
Die etablierten Hersteller stehen jedoch vor einer doppelten Aufgabe: Einerseits müssen sie den technologischen Vorsprung von Tesla in der E-Auto-Welt schleunigst aufholen, gleichzeitig aber müssen sie – je nach Konzernstrategie noch für mindestens zehn weitere Jahre – Verbrenner bauen, verkaufen, weiterentwickeln und dort mit zunehmendem regulatorischem Gegenwind umgehen, Stichwort Euro-7-Schadstoff-Grenzwerte.
Derzeit sind die E-Fahrzeuge der deutschen Hersteller nicht konkurrenzfähig und auch nicht profitabel. Volkswagen braucht nach Aussage von CEO Herbert Diess in seinem Zwickauer Werk dreimal so lang, um den ID3 zu bauen, das Modell, mit dem der Wolfsburger Konzern an die Erfolgsgeschichte von Käfer und Golf anknüpfen möchte, als Tesla für das vergleichbare Modell 3 benötige. »Was das alles an der Börse bedeutet, brauche ich hier nicht erwähnen«, mahnte Diess, wie die FAZ berichtete.
Ende Oktober kündigte der Autovermieter Hertz an, 100.000 Fahrzeuge von Teslas Modell 3 zu ordern. Daraufhin stieg der Aktienkurs von Tesla auf neue Rekordhöhen und der größte Elektroautohersteller der Welt drang erstmals in die Sphäre der mit über einer Billion Dollar bewerteten Unternehmen vor, die üblicherweise Digitalkonzernen vorbehalten ist. Damit gelingt Tesla der Einstieg in den Markt der Flottenbetreiber, und das Modell 3 wird de facto zum Standard in der automobilen Elektro-Mittelklasse, zum VW Golf im Elektrozeitalter. Hertz‘ Interims-Chef Mark Fields äußerte gegenüber der Presse: »Tesla ist der einzige Hersteller, der Elektroautos in großem Stil bzw. in großen Stückzahlen herstellen kann.«
110 Jahre später wiederholt sich die Geschichte also möglicherweise in der gerade anbrechenden Ära batterieelektrischer Automobile. Tesla treibt die etablierten Hersteller tüchtig vor sich her.
Die deutschen Hersteller scheinen nicht erkannt zu haben, dass es nicht um einen Wechsel des Antriebsstrangs von fossilen Verbrennern zu batteriebetriebenen Elektromotoren geht, sondern um ein gänzlich neues Produkt in einem gänzlich veränderten Umfeld. Die Verkehrsforscher Weert Canzler und Andreas Knie trauen der Branche keinen grundlegenden Wandel zu, da diese sich »in gegenseitiger professioneller Grundübereinstimmung ihrer eigenen Kriterien für Erfolg« versichere.
Aus dem geplanten langsamen Hochfahren der Elektromobilität ist eine schnelle Neuaufstellung des Automarktes geworden, die die etablierten Hersteller auf dem falschen Fuß erwischt. Die deutsche Autoindustrie ist möglicherweise ein weiteres Mal wie schon vor 110 Jahren nicht in der Lage, bei der Produkt- und System-Revolution mitzuhalten, die diesmal Tesla initiiert hat.
Was wir gerade erleben, lässt sich als »disruptive Elektrifizierung« beschreiben: Die freigesetzte Dynamik hat das Potenzial, die deutschen Autoindustrie nicht nur zu stören und wachzurütteln, sondern den Markt so schnell und so nachhaltig zu verändern, dass niemand – außer vielleicht Volkswagen – in der Lage ist, die Veränderung in gleicher Geschwindigkeit mitzuvollziehen.
Bislang gab es drei Faktoren, die Tesla davon abhielten, den etablierten Herstellern ernsthaft gefährlich werden zu können: Niemand wollte ein Elektroauto haben (zu teuer, keine Reichweite, keine Ladeinfrastruktur!), Teslas Qualität stimmte nicht (und damit war deren Produkt für den klassischen Autokäufer nicht akzeptabel) und Teslas Produktionskapazitäten waren die eines Nischenherstellers. Die ersten beiden Brandmauern sind bereits gefallen, seit 2020 geht der Elektroautotrend auch bei uns los und Tesla baut – auch in den Augen der Öffentlichkeit – die besten Elektroautos. Mit dem Produktionsstart in Grünheide beginnt auch der dritte und letzte Faktor zu wackeln.
Wir bekommen so dank Tesla zwar eine schnellere Elektrifizierung der Pkw-Flotte, aber einer echten Antriebswende, also der kompletten Dekarbonisierung des Verkehrssektors, kommen wir damit nicht näher. Denn beim Güter- und öffentlichen Verkehr sieht es mau aus: Investitionsstau bei der Bahn, Güter auf der Straße und dem ÖPNV laufen die Fahrgäste davon. Und wenn in Zukunft das Fahren eines Elektroautos auch noch – ob tatsächlich oder vermeintlich, sei dahingestellt – umweltfreundlicher ist als Bus und Bahn, rückt ein Ausstieg aus dem autozentrierten Nachkriegs-Lebensmodell erst recht in weite Ferne.
* Zitat der Überschrift: VW-Chef Herbert Diess Anfang November auf der Betriebsversammlung in Wolfsburg
Andreas Boes, Alexander Ziegler: Umbruch in der Automobilindustrie. Analyse der Strategien von Schlüsselunternehmen an der Schwelle zur Informationsökonomie ISF München 2021
W. Canzler, A. Knie: Der alte Traum vom privaten Glück – Die Autoindustrie als Teil eines vergangenen Gesellschaftsentwurfs in: WSI-Mitteilungen 74 (3), 2021
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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