• Kultur
  • Diskriminierung beim Erwachsenwerden

»Kinder leben im Hier und Jetzt«

Die Teamerin ManuEla Ritz über kritisches Erwachsensein

  • Esther Schelander
  • Lesedauer: 8 Min.

Gibt es eine Frage, die sie sehr beschäftigt?

Vor mehr als fünf Jahren beschäftigte mich die Frage: Ist das, was zwischen Ost- und Westdeutschland stattfindet, ein Diskriminierungsverhältnis? Die Frage habe ich zuerst nur kleinlaut gestellt. Ich wusste gar nicht, wo anfangen, weil ich selber so verstrickt war.

Jahrelang war ich damit beschäftigt, mich an das westdeutsche System anzupassen. Und daraus musste ich mich erst freibuddeln. Ich habe eine Schreibwerkstatt mit Menschen gegründet, die sowohl im Osten als auch im Westen sozialisiert worden sind. Ich wollte einen Raum öffnen, der es Menschen ermöglicht, sich auf eine Reflexionsreise zu begeben und miteinander in Austausch zu gehen.

Interview

ManuEla Ritz ist Teamerin und Begleiterin von Diversifizierungsprozessen in Organisationen. Ihr Blick ist ein machtkritischer. Dabei geht es um Diskriminierung und Ausschlüsse von Schwarzen Menschen und People of Color sowie um deren Empowerment. Besonders intensiv hat sie sich mit Rassismus und Adultismus, der Diskriminierung von Kindern durch Erwachsene, auseinandergesetzt.

 

Und was haben Sie herausgefunden? Ist es ein Diskriminierungsverhältnis?

Ja, das ist es! Diskriminierung lässt sich daran ablesen, dass es eine Norm, einen Maßstab gibt. Und meine eigene Biografie zeigt, dass ich westdeutsch zu sein - was immer das auch heißen mag - vermutlich schon verinnerlicht hatte, als die beiden deutschen Staaten noch getrennt waren.

Nach der sogenannten Wiedervereinigung hat es mich jahrzehntelang geärgert, im Radio das Wort »wir« zu hören, und dann folgten Geschichten, die ich nicht teilte, weil es westdeutsche Geschichten waren. Das ändert sich seit Kurzem ein wenig, aber dies machte mir deutlich, dass ich in diesem »Wir« nicht mitgemeint bin.

Sie haben sich intensiv mit verschiedenen Diskriminierungsformen und deren Überschneidungen auseinandergesetzt. In den letzten Jahren haben Sie gemeinsam mit Ihrer Tochter Simbi Schwarz ein Buch über »Adultismus und kritisches Erwachsensein« geschrieben, das demnächst im Unrast-Verlag erscheinen wird. Adultismus ist neben Rassismus, Sexismus, Ableismus und Queerfeindlichkeit eine Diskriminierungsform. Doch viele Menschen kennen den Begriff gar nicht.

Und doch kennen wir alle das System hinter dem Begriff. Denn wir alle waren einmal Kinder, und wir alle wissen - manche mehr, manche weniger -, wie es sich anfühlt, wenn wir keine oder nur wenig Macht haben. Zum Beispiel weil Menschen über unseren Kopf hinweg Sachen entscheiden: Wann wir schlafen gehen, in welche Schule wir gehen, dass wir überhaupt in die Schule gehen müssen.

Adultismus beschreibt ein Machtungleichgewicht zwischen den Menschen, die sich für erwachsen halten, und den sogenannten Kindern und Jugendlichen. Erwachsensein wird gleichgesetzt mit den Adjektiven »verantwortungsbewusst« und »wissend«. Für Kinder hingegen gilt: Sie wissen nichts. Und: Sie müssen erst noch erzogen werden.

Ist es nicht so, dass Kinder manche Dinge tatsächlich nicht so gut einschätzen können? Ich denke da ans Zähneputzen.

In den Workshops sagt meist irgendwer: »Aber eine*r muss doch die Hosen anhaben. Anders geht es nicht.« Aber machtkritisch über Adultismus nachzudenken, stellt alles, was wir gelernt haben, auf den Kopf. Ich erkläre es gerne so: Einerseits gibt es Adultismus - das heißt, ich benutze meine Macht, einfach weil ich es kann. Andererseits kann ich meine Macht benutzen, um ein Kind zu (be)schützen. Dabei ist es wichtig, ehrlich zu sein: Geht es gerade um Schutz oder nicht? Manchmal behaupten wir zwar, dass es um Schutz oder Kindeswohl geht, doch bei genauerer Betrachtung stimmt das gar nicht.

Eine Workshop-Teilnehmerin erzählte, dass sie zu ihrem Kind gesagt hat: »Wenn du jetzt nicht Zähne putzt, dann werden deine Zähne schwarz und fallen aus.« Doch am nächsten Tag waren die Zähne noch da; das Kind war irritiert. Wenn das Kind heute nicht die Zähne putzt, muss ich es dann wirklich zu seinem eigenen Schutz dazu zwingen? Vielleicht nicht. Wenn doch, sollte ich eine kluge und ehrliche Begründung dafür haben, warum ich diese Regel wichtig finde.

Wie können wir andere Verbindungen mit Kindern eingehen?

Als erwachsene Person habe ich die Macht, meine Beziehung zu jungen Menschen zu formen. In Folge bin ich für die Beziehungsgestaltung verantwortlich. Viele kennen das vielleicht aus der Schule: So wie eine Lehrkraft auftritt, so ist das Klassenklima. Daher muss ich mir als erwachsener Mensch überlegen: Wie möchte ich diese Beziehung gestalten? Ich habe Lust auf Spaß und auf Entspannung - wie kommen wir dahin?

Was bedeutet Beziehung statt Erziehung?

Wenn wir uns für eine Beziehung zu den Kindern entscheiden, dann lösen wir auch weniger Widerstand bei ihnen aus. Oft begegnen wir Kindern mit folgender Haltung: »Ich weiß, wie es geht und was gut ist. Du machst, was ich sage - und irgendwann, vielleicht in zwanzig Jahren, wirst du sehen, dass das, was ich hier und jetzt für dich entschieden habe, gut war.« Doch der große Masterplan, das in die Zukunft gerichtete Denken, überzeugt junge Menschen meist nicht. Sie sind eher im Hier und Jetzt unterwegs. Und dieser Wunsch - ich will hier und jetzt schöne Beziehungen mit meinen Kindern leben - hat mich oft angetrieben.

Wie sind Sie dazu gekommen, sich mit Adultismus auseinanderzusetzen?

Ich wurde in der DDR zur Erzieherin ausgebildet und habe den Beruf drei Jahre lang ausgeübt. Mit 19 bin ich von Sachsen nach Ostberlin gezogen und habe in Hohenschönhausen in einer Kinderkrippe gearbeitet. Nach nur einem Jahr hatte ich meine erste eigene Gruppe. Das fand ich toll. Und doch habe ich auch gemerkt, dass ich manchmal Sachen machte, die sich nicht richtig anfühlten, aber dass ich gerade nicht wusste, wie es anders gehen könnte. Das war auch den Strukturen geschuldet: volle Gruppen, ein Bildungsplan, Erwartungen von Kolleg*innen, Eltern und der Leitung.

Und konnten Sie in Ihrer Zeit dort auch Dinge verändern und bewegen?

In dem Haus gab es die Regel, dass zwischen zwölf und halb zwei alle ruhig sein müssen, damit die Kinder Mittagsschlaf machen können. Doch es gab Kinder, die gar nicht schlafen wollten. Ich habe daher entschieden, dass es diese Regel in meiner Gruppe nicht gibt. Die Kinder, die nicht schlafen wollten, haben in der Zeit etwas anderes gemacht. Ruhig war das natürlich selten. Die Leiterin der Einrichtung sagte: »Sorge bitte wenigstens dafür, dass die Kinder, die schlafen wollen, nicht gestört werden.« Das habe ich gemacht. Die Krippe stand am Rand von Hohenschönhausen, und ich habe die Mittagspause mit den munteren Kindern auf dem Feld hinter dem Haus verbracht.

Schlafen. Das ist in vielen Familien ein Streitthema.

Da geht es auch um eine bewusste Kommunikation. Ich kann sagen: »Du musst um acht ins Bett, weil du sonst morgen nicht ausgeschlafen bist.« Das ist Erziehung. Oder ich spreche von mir und meinen Bedürfnissen. Ich habe meinem beiden Kindern damals gesagt: »Ab acht kann ich einfach nicht mehr. Da sind meine Akkus leer, ich werde ungeduldig, und das möchte ich nicht. Deswegen brauche ich ab acht meine Ruhe.« Und das Resultat war, dass mein Sohn schon vor acht im Bett lag, denn er wollte, dass ich ihm noch vorlese. Und meine Tochter hat manchmal noch um zehn in ihrem Zimmer gespielt, Hörbücher gehört oder gemalt. Ich glaube, dass Menschen sich gut selbst regulieren können. Zumindest meistens.

Eine Zeit lang haben Sie gemeinsam mit Ihrer Tochter Simbi Workshops zu Adultismus gegeben. Wie kam es dazu?

Als Simbi zehn oder elf Jahre alt war, habe ich eine Lerngruppe gegründet. Ein halbes Jahr hat sich die Gruppe, bestehend aus Erwachsenen, regelmäßig getroffen, um über Adultismus nachzudenken. Und eines Tags hat Simbi gesagt, dass sie mitmachen will. Sie hat unserer Gruppe zwei Fragen gestellt: Was heißt es erwachsen zu sein? Und wie ist es mit Freundschaften, wenn man erwachsen ist? Die Antworten sollten wir malen.

Wie sahen die Bilder aus?

Auf den meisten waren Handys, Laptops und Terminkalender zu sehen. Auf meinem Lieblingsbild saß ein Mensch in seinem Bett. Die Wanduhr zeigte Mitternacht, draußen war es dunkel. Der Fernseher lief, auf dem Bett lag ein halb leerer Pizzakarton, und irgendwo stand noch ein Eis. Das sind die Freiheiten, die Erwachsene im Gegensatz zu Kindern haben. Simbi hat es später mal so zusammengefasst: Erwachsene dürfen sich schaden. Sie dürfen ungesunde Sachen essen oder trinken, nachts eine Serie gucken, können rauchen und Alkohol trinken.

Ich fand spannend, dass es bei den anderen Bildern meist um Verantwortung ging, aber auch um die Last, erwachsen zu sein.

Auch wenn wir uns bemühen, andere Verbindungen zu den Menschen um uns herum aufzubauen: Auf struktureller Ebene bestehen Diskriminierungsverhältnisse fort. Sie lassen sich nicht auflösen.

Ja, diese Mechanismen lassen sich am ehesten auf der Beziehungsebene aushebeln. Doch die Welt ist so strukturiert, dass wir Adultismus nicht entkommen können. Zum Beispiel gibt es die Schulpflicht. Und auch unser Zuhause war sicher keine adultismusfreie Insel. Allein schon, weil ich dafür sorgen musste, dass die Kinder zur Schule gehen.

Gibt es noch eine Erinnerung, die Ihnen besonders im Gedächtnis geblieben ist?

Für unsere Workshops zu Adultismus hat sich Simbi folgende Übung ausgedacht: Die Teilnehmer*innen sollten sich eine Sache überlegen, die sie als Kind gerne gemacht haben. Ziel der Übung war, sich auch mal mit den schönen Seiten des Kindseins zu verbinden, Kindsein nicht nur über Abhängigkeit und Machtungleichheit zu definieren. Ich zum Beispiel bin total gerne Rollschuh gelaufen - und nach dem Workshop habe ich mir neue Rollschuhe gekauft. Gefahren bin ich bisher noch nicht damit. Doch eines Tages werde ich es noch einmal versuchen.

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