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Das Lernen vergessen

Christian Heidel, Vorstandsmitglied beim FSV Mainz, über politisches Versagen und den Profifußball in der Pandemie

  • Frank Hellmann
  • Lesedauer: 8 Min.

Sie treten mit dem FSV Mainz an diesem Sonnabend beim FC Bayern in einem leeren Münchner Stadion an. Ist das für den Außenseiter Vorteil oder Nachteil?

Es würde mir leidtun, wenn irgendein Verantwortlicher vor einem solchen Spiel sagen würde, dass es ein Vorteil ist, wenn keine Zuschauer da sind. Niemand im Fußball möchte in einem leeren Stadion spielen. Auch wenn die Arena in München nicht gerade ein Hexenkessel ist: Vor 70 000 beim FC Bayern anzutreten, ist immer etwas Besonderes. Wir finden es alles andere als schön, vor leeren Rängen auflaufen zu müssen - aber wir kommen natürlich trotzdem. (lacht)
Interview
Christian Heidel, Vorstand Strategie, Sport und Kommunikation beim FSV Mainz 05, arbeitet seit einem Vierteljahrhundert bei dem Bundesligisten. Vor dem Geisterspiel beim FC Bayern München spricht der 58-Jährige über Versäumnisse sowie Populismus in der Politik während der Pandemie und über emotionale Folgen für den Fußball. Warum der Trainer die wichtigste Person in einem Verein ist, erklärt er ebenso wie die gewinnbringendsten Eigenschaften für diese Aufgabe.

Die Bundesliga war im Frühjahr 2020 Vorreiter bei der Fortsetzung des Spielbetriebs, jetzt scheint sie Pionier bei der Wiedereinführung der Geisterspiele zu sein. Wie ist das zu erklären?

Ich bin felsenfest davon überzeugt, dass hier etwas komplett schiefläuft. Weil die Politik in Deutschland sich angewöhnt hat, immer nur zu reagieren und überhaupt nicht mehr zu agieren. Und das hängt meiner Meinung nach mit der Bundestagswahl zusammen. Es hat niemand im Sommer gewagt, eine Entscheidung zu treffen, die womöglich Stimmen kostet. Stattdessen wurde gewartet, bis das Kind in den Brunnen gefallen ist und im Nachgang versucht, es wieder rauszuholen. Idealerweise wäre es so weit gar nicht gekommen. Das betrifft aber die ehemalige Regierung genauso wie die neue Ampel-Koalition.

Sie klingen verärgert …

Weil der Fußball im Kontext der Pandemie eigentlich nur ein ganz kleines Thema ist, aber immer wieder in den Vordergrund gerückt wird. Was jetzt passiert ist, hätte meiner Meinung nach nicht passieren müssen und dürfen. Alle Experten haben vor zwei, drei Monaten vor den Wintermonaten gewarnt. Und trotzdem schließen wir beispielsweise bei einer Impfquote von unter 70 Prozent die Impfzenten, um sie sechs Wochen später wiederzueröffnen. Leider sind wir in diesem Jahr darin Vorreiter in Europa, wie man es nicht machen sollte.

Dirk Zingler, Vereinspräsident des 1. FC Union Berlin, hat jüngst gesagt, er habe es sich nicht vorstellen können, wie schlecht das Land geführt wird. Er sprach von einem katastrophalen Zustand. Was sagen Sie?

Deutschland hat bei der Bekämpfung der Pandemie anfangs sicher eine gute Rolle gespielt, diese aber mit der Zeit verloren. Ich bin ja hin und wieder in Spanien, das von Corona extrem getroffen wurde. Mein Eindruck ist aber, dass sie daraus gelernt haben. Deutschland hat vergessen zu lernen. Trotzdem würde ich nicht behaupten, dass sich unser Land im Chaos befindet: Ich bin immer noch froh, die meiste Zeit meines Lebens in Deutschland zu verbringen.

Sie wirkten schwer genervt davon, wie hierzulande mit dem nicht geimpften Nationalspieler Joshua Kimmich vom FC Bayern umgegangen wurde.

Ich finde erst einmal, dass der Fußball völlig zu Unrecht an den Pranger gestellt wurde. Die Impfquote im deutschen Profifußball liegt bei rund 95 Prozent: Davon träumt jede andere Branche und auch die Republik als Ganzes. Trotzdem wurde immer wieder über den Fußball und 50 Ungeimpfte diskutiert. Wir sind beim FSV Mainz inzwischen bei 100 Prozent - jeder Spieler und Mitarbeiter rund um die Mannschaft ist geimpft, zwei sind genesen. Es hat mich massiv geärgert, dass der Fußball benutzt wurde, um von wahren Versäumnissen abzulenken. Dass dann einer wie Joshua Kimmich, weil er nicht geimpft ist - was ich auch nicht gut finde, um es klar zu sagen - derart öffentlich angegangen wird, ging komplett an der Sache vorbei.

Denken viele so wie Sie in der Liga?

Das ist mein Eindruck. Vielleicht haben wir alle gemeinsam den Fehler gemacht, uns zu spät zu äußern. Das Schlimme ist, dass wir in eine Verteidigungshaltung gerieten, die nicht annähernd angebracht war.

Hat es in Mainz beim letzten impfskeptischen Fußballprofi klick gemacht, weil ihr Verein vor dem ersten Bundesligaspiel dieser Saison gegen RasenBallsport Leipzig schon so stark betroffen war?

Der Fall hat natürlich allen die Augen geöffnet, auch bei anderen Vereinen. Aber die Entscheidung sich impfen zu lassen, haben die Spieler für sich getroffen. Ich habe auch den Eindruck, dass die demnächst anstehenden Booster-Impfungen angenommen werden, weil jeder verstanden hat: Wir kommen ohne die Impfungen aus der Pandemie nicht mehr raus, und ich habe auch eine Verantwortung gegenüber dem Mitspieler und Kollegen. Denn ein Corona-Ausbruch innerhalb einer Saison kann auch über Meisterschaft und Abstieg entscheiden.

Wie hart trifft die vierte Welle einen Klub wie Mainz? Zum einen finanziell, zum anderen auch emotional?

Das Wirtschaftliche werden wir irgendwie in den Griff bekommen, auch wenn es uns natürlich wehtut. Viel, viel schwieriger ist das Emotionale; und das betrifft alle Klubs, die ihre Anhänger kaum noch sehen. Man verliert irgendwann die Bindung. Deswegen hoffe ich, dass wir spätestens ab März, April wieder eine einigermaßen normale Situation in den Stadien haben.

Was bleibt bei Ihnen jetzt schon als wichtigste Lehre aus der Pandemie haften?

Das Schlimmste ist der Populismus: Immer das zu tun, was die Menschen gerade hören wollen. Dabei hat jeder im Sommer gewusst, da kommt noch was. Aber man hat es wegen der Wahlen einfach unter den Tisch gekehrt. Ich würde mir eine Regierung wünschen, die Entscheidungen trifft, die uns vorausschauend in Sicherheit bringen, bevor die Fallzahlen wieder steigen.

Dann müsste man doch einem immer wieder für seine Weitsicht geschätzten Krisenmanager wie Christian Seifert von der Deutschen Fußball-Liga fast raten, jetzt in die Politik zu gehen?

Ich wünsche ihm, sich einen anderen Job zu suchen. (lacht) Aber ich könnte ihn mir als Politiker sehr gut vorstellen. Er hat auf Ligasitzungen oft auch Dinge angesprochen, die nicht jedem gefallen haben, dabei aber immer das Gespür fürs große Ganze aufgebracht. Ich bedaure sehr, dass er bald nicht mehr für die DFL tätig ist.

Sie haben nach dem 3:0 am vergangenen Spieltag gegen den VfL Wolfsburg gesagt, es passt beim FSV Mainz gerade alles: Der Kader, die Spieler, der Trainer. Sie aber verantworten als Vorstand Strategie, Sport und Kommunikation den ganzen Laden.

Ich habe schon früher nicht alles alleine gemacht und heute erst recht nicht. Wenn wir sportliche Entscheidungen treffen, sitzen Bo (Trainer Bo Svensson, Anm. d. Red.), Martin (Sportdirektor Martin Schmidt) und ich zusammen. Welchen Spieler geben wir ab? Welchen verpflichten wir? Da gehört auch noch Bernd Legien dazu, der im Scouting einen tollen Job macht. Wir diskutieren offen und auch mal kontrovers, aber finden immer gemeinsame Entscheidungen. Das passt.

Ist Ihr Verein ein passendes Beispiel dafür, dass eine gute Führung fast wichtiger ist als gute Spieler auf dem Platz?

(Überlegt) Ich habe immer gesagt, die wichtigste Person in einem Verein ist der Trainer. Ein guter Trainer kann aus einer schlechten eine mittelmäßige Mannschaft machen, aus einer mittelmäßigen eine gute. Umgekehrt ist das leider auch möglich. Warum sage ich das? Weil ich das selbst oft genug erlebt habe. Mit Wolfgang Frank, Jürgen Klopp, Thomas Tuchel und Sandro Schwarz hatten wir überragende Trainer in Mainz. Wenn mich heute einer fragt, willst du lieber einen herausragenden Torjäger oder einen herausragenden Trainer, wähle ich immer den Trainer.

Wer ihrem Trainer Bo Svensson zuhört, wird zwar nicht annähernd so gut unterhalten wie unter Jürgen Klopp und nicht annähernd so gut belehrt wie unter Thomas Tuchel, aber er scheint auf einem ähnlich guten Weg.

Kloppo ist in seiner Art natürlich sensationell. Und Thomas Tuchel verfügt über ein unfassbares Fußballfachwissen. Mich hätte es aber total gewundert, wenn Bo versucht hätte, einen der beiden zu kopieren - das ist nicht seine Art, er ist total authentisch. Und Bo zeichnet eine überragende Fachkenntnis und eine super soziale Kompetenz aus. Das sind auch die wichtigsten Eigenschaften, die nur bei einem überdurchschnittlich intelligenten Trainer anzutreffen sind. Ich spüre immer wieder, wie Bo die Spieler fängt. Dazu ist er nach außen bescheiden und demütig, stellt sich nie in den Mittelpunkt. Mir gefällt das alles richtig gut. Mein Job ist es, diese jungen Trainer sich entwickeln zu lassen und sie nicht zu verbiegen.

Sie können aber wohl kaum verhindern, dass Bo Svensson in den Fokus größerer Vereine rückt.

Wenn einer mit solchen Begehrlichkeiten Erfahrung hat, dann doch ich. Was ist letztlich passiert: Kloppo ist nach sieben, Thomas Tuchel nach fünf Jahren gegangen. Ich kenne Bo Svensson seit 2007, als wir ihn als Spieler verpflichtet haben - über diese lange Zeit lernt man den Menschen kennen. Es macht uns in der erwähnten Konstellation einen Riesenspaß. Ich habe diesem Trainer im Januar nicht umsonst einen Vertrag über dreieinhalb Jahre gegeben. Deswegen schlafe ich auch jetzt gut - und er sicher auch.

Müssen Sie im Rückblick eigentlich darüber schmunzeln, was über die Feiertage vor einem Jahr los war, als Sie mit Martin Schmidt und Bo Svensson gemeinsam nach Mainz zurückgekehrt sind?

Wir wussten alle drei an Heiligabend nicht so genau, was Silvester sein wird. Wir haben nicht alle sofort gesagt: »Super, das machen wir jetzt!« Am meisten habe damals sogar ich gewackelt. Das Wichtige ist, dass wir drei heute alle glücklich sind - und wissen, dass unsere Mission noch nicht beendet ist.

Dann können Sie dieses Jahr ja in aller Ruhe Weihnachten feiern?

Ich werde gemeinsam mit meiner Familie und meinen Eltern in Mainz Weihnachten feiern - wie das seit 58 Jahren geschieht. Im letzten Jahr hatte die Bescherung genau eine Stunde gedauert, und dann habe ich wieder telefoniert und diskutiert. Daher habe ich tatsächlich vor, dieses Jahr das Handy auszuschalten.

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