• Politik
  • Protest gegen Coronaleugner und Rechtsextreme

Die virtuelle Gegendemonstration

In Freiberg wehrt sich ein Bündnis dagegen, dass die Stadt zum »Abenteuerspielplatz« für Querdenker und Rechtsextreme wird

  • Hendrik Lasch
  • Lesedauer: 5 Min.

Offene Briefe sorgen, wie das Bündnis Freiberg für alle gerade erlebt, für viel Arbeit. Dabei geht es weniger um das Verfassen des Textes. Am Mittwoch vergangener Woche beschloss man, sich öffentlich zu den anwachsenden Corona-Protestaufzügen in der Stadt zu äußern, sagt Michael Stahl, Pfarrer der Stadtkirche St. Petri. Schon zwei Tage später wurde der Text im Internet veröffentlicht. Seither quoll das Postfach über von Nachrichten, in denen Menschen bitten, ihren Namen unter den Brief zu setzen. Jeder einzelne wird auf die Seite übernommen - 3200 allein bis Mitte der Woche. »Was da auf uns zukommt«, sagt Claudia Kallmeier vom Bündnis, »haben wir etwas unterschätzt«.

»Wir sind sauer, wir sind wütend«

Es ist indes eine Bürde, die sich leicht tragen lässt, weil sie mit der Erkenntnis verbunden ist: Viele denken so wie wir. Viele finden es unerträglich, dass zunächst Hunderte, inzwischen fast 1000 Menschen durch die Altstadtgassen ziehen, die Pandemie leugnen, Maßnahmen zu deren Eindämmung als Ausdruck einer Diktatur verunglimpfen und sich dabei demonstrativ den Hygieneregeln verweigern: keine Masken, keine Abstände. Zulauf gibt es aus der Stadt und den Dörfern im umliegenden Erzgebirge, inzwischen allerdings auch von weit her: Das Magazin »Compact«, Hauspostille der Neuen Rechten, mobilisiert ebenso nach Freiberg wie die rechtsextreme Gruppierung »Freie Sachsen«. Die Stadt drohe zu einem »Abenteuerspielplatz der Rechtsextremen und Corona-Leugner« zu werden, heißt es in dem Brief: »Wir sind sauer, wir sind wütend und wir wollen das nicht länger hinnehmen!«

Das Bündnis Freiberg für alle gibt es seit Juni 2019. Manche Beteiligte waren zuvor schon in Willkommensinitiativen für die Integration von Flüchtlingen engagiert. Es war ein Thema, das für viele Konflikte sorgte. Die Stadtpolitik spielte dabei eine eher unrühmliche Rolle und versuchte teils, sich bei Gegnern von Zuwanderung anzubiedern. Der Stadtrat verfügte einen »Zuzugsstopp«; der Rathauschef drohte, Kosten für die Aufnahme von Migranten der Bundeskanzlerin in Rechnung zu stellen. Die örtliche CDU vollzog mit ihren »Freiberger Thesen« einen Rechtsruck, der als offene Anbiederung an die AfD zu lesen war. Die wiederum misst der Region strategische Bedeutung bei, wie Treffen führender Vertreter des extrem rechten »Flügels« nahe Freiberg zeigten. Das Direktmandat im Bundestag hat die AfD bereits gewonnen. 2022 werden ein neuer Landrat und der Rathauschef in Freiberg gewählt.

Existenzängste und verhärtete Ansichten

»Freiberg für alle« will einerseits gegenhalten und setzt sich für eine »offene, lebenswerte und demokratische« Stadt ein. Zugleich will man Gräben in der Stadtgesellschaft überwinden, »ins Gespräch kommen, friedlich und sachlich streiten, respektvoll miteinander umgehen«, wie es im eigenen Magazin namens »Gesicht zeigen« heißt. Den Versuch unternahm man auch, als die montäglichen »Spaziergänge« gegen die Corona-Maßnahmen begannen. Zu denen kamen auch Menschen, die ehrliche Existenzängste hatten oder sich um die Bildung der Kinder sorgten, sagt Jana Pinka, Stadträtin und frühere Landtagsabgeordnete der Linken.

Mit ihnen versuchte man zu reden, teils sogar zu Hause, aber mit mäßigem Erfolg: »Wir haben fast keinen zum Umdenken gebracht«, sagt Pinka. Zu verhärtet seien nach zwei Jahren Pandemie Ansichten, die den Nutzen der Impfung und die Gefährlichkeit des Virus bestritten; zu geschlossen die argumentativen Blasen. Inzwischen gibt es kaum noch Möglichkeiten zum persönlichen Austausch, was ein Problem ist, sagt Michael Stahl: Wenn es »keine Begegnungsräume« in der Stadtgesellschaft mehr gebe, trage das zu Abkapselung und Radikalisierung bei. Zugleich seien Möglichkeiten für Kompromisse in der aktuellen Debatte ohnehin begrenzt, sagt Claudia Kallmeier: Man könne sich eben nicht auf halbem Wege zwischen »wissensbasierten Argumenten und Schwurbelei« treffen.

Allerdings nimmt man im Bündnis auch wahr, dass viele Freiberger die Corona-Politik trotz all ihrer Zumutungen für sinnvoll und notwendig halten. Das Bündnis will ihnen mit dem Brief eine Stimme geben. »Wir tun es nicht gerne«, heißt es dort, »aber wir tragen die temporären Maßnahmen mit« - aus Verantwortungsgefühl gegenüber Mitmenschen und im Vertrauen auf die Wissenschaft. Es ist eine Position, die etwas unterzugehen droht in der scharfen Debatte über den adäquaten Umgang mit radikalen Corona-Leugnern. Sie zu artikulieren ist gleichwohl wichtig, nicht zuletzt, weil etwa die »Freien Sachsen« behaupten, es seien ihre Demonstrationen, die den »Volkswillen« ausdrücken.

Die Frage ist: Was ist der richtige Weg? Eigene Demonstrationen verbieten sich; Sachsens Corona-Notverordnung erlaubt nur stationäre Versammlungen mit zehn Menschen, und »wir wollen keine regelwidrigen Veranstaltungen«, sagt Stahl. Das Problem sehen auch andere: Michael Nattke vom Kulturbüro Sachsen rief im Interview mit dem »nd« auf, »Pandemie-konforme Wege und Mittel zu finden«, die zeigen, dass die Mehrheit der Sachsen »bewusst nicht mit Widerstandsparolen auf den Straßen unterwegs ist«.

In Freiberg hat sich das Bündnis für eine Art virtuelle Gegendemonstration in Form des offenen Briefs entschieden - mit großem Zuspruch. Man habe offenbar »der schweigenden Mehrheit den nötigen Schubs gegeben«, sagt Claudia Kallmeier. Es unterschreiben viele Freiberger, aber auch Menschen, die an der Bergakademie studiert haben oder andere Beziehungen zu Freiberg haben. Sie fürchten, dass durch die bundesweit beachteten Aufzüge der Corona-Leugner Schaden droht und der »Ruf der Stadt und der Region nachhaltig beschädigt« werden, und sie fordern die Politik zum Handeln auf: Man erwarte von dieser, die »illegalen Demonstrationen nicht länger zu dulden«, heißt es. Dass die Polizei am vorigen Montag einen Aufzug unterband, sei ein erstes, ermutigendes Zeichen, sagt Michael Stahl: »Wir müssen«, sagt er, »zurück zu einem Miteinander, das auf Regeln basiert und diese akzeptiert.«

Abzuwarten bleibt, wie es weiter geht mit den Aufmärschen in Freiberg. Gibt es eine Art Trotzreaktion, die noch mehr Menschen auf die Straße führt, oder gelingt es, die Proteste einzudämmen - sei es, weil das Bußgeld von 250 Euro doch schmerzt, das den Beteiligten vom vorigen Montag wegen ihres Verstoßes gegen die Notverordnung droht, oder sei es vielleicht auch, weil der Zuspruch zum Offenen Brief klarstellt, dass ihnen Rückhalt in der Bevölkerung fehlt? Beim Bündnis Freiberg für alle hofft man auf Letzteres - und denkt zugleich schon weiter: »Wir müssen sehen«, sagt Jana Pinka, »wie wir nach dem Ende der Pandemie in der Stadt wieder zu einem friedlichen Miteinander finden.«

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