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Flexibel abgestrampelt
Verhandlungen über Tarfifvertrag bringen nur Angestellten Vorteile
»Mjam und Co. bekommen die Tresortür nicht mehr zu – und wir wollen einen anständigen Teil davon!« Dieser Satz von Karl Delfs, Fachbereichssekretär der Gewerkschaft vida, umreißt die Ausgangslage für die Tarifverhandlungen der österreichischen Fahrradbot*innen ganz gut: Zustelldienste, die in Folge von Pandemie und Lockdown horrende Gewinne schreiben; Bot*innen, die sich für ein paar Euro die Stunde bei Wind und (derzeit besonders schlechtem) Wetter abstrampeln. Den Start der Verhandlungen hat nun erstmal Corona verhagelt. Der neue Termin steht noch nicht fest.
Olga Hohmann versteht nicht, was Arbeit ist und versucht, es täglich herauszufinden. In ihrem ortlosen Office sitzend, erkundet sie ihre Biografie und amüsiert sich über die eigenen Neurosen. dasnd.de/hohmann
Es wird die dritte Tarifverhandlung der Zusteller*innen von Lieferdiensten wie Mjam, Lieferando und Veloce. Im Januar 2020 erhielten Fahrradbot*innen einen Tarifvertrag – den ersten weltweit. Dieser garantierte ihnen ein Grundgehalt von 8,71 Euro pro Stunde sowie ein Kilometergeld von 14 Cent und Sozialleistungen wie Urlaubsgeld und Lohnfortzahlung im Krankheitsfall. Am 1. Januar 2021 folgte eine Erhöhung auf 8,90 Euro pro Stunde und 24 Cent pro Kilometer.
Für die anstehenden Verhandlungen, die wegen des Lockdowns von Ende November auf Mitte Dezember verlegt wurden, gebe es »keinerlei Grund, sich irgendwie zurückzuhalten«, bekräftigt vida-Gewerkschafter Karl Delfs. Konkrete Zahlen wollte er noch nicht nennen, aber eine »deutliche Erhöhung« des Grundgehalts sowie Sonn- und Feiertagszuschläge sollten es schon sein. Orientieren will man sich an vergleichbaren Abschlüssen der vergangenen Monate. Die Angestellten im Kleintransportgewerbe etwa erstritten im November eine Lohnerhöhung von 4,5 Prozent.
Was Gewerkschafter Delfs mehr wurmt, sind die arbeitsrechtlichen Rahmenbedingungen. Laut Koalitionsvertrag von ÖVP und Grünen sollen künftig auf Bundesebene »klare und praktikable Regelungen zur Abgrenzung von Dienst- und Werkverträgen« gefunden werden. Pandemiebedingt hängt dieses Vorhaben nach wie vor in der Warteschleife. Denn die Krux am bestehenden Tarifvertrag ist: Viele der Rider, bei Mjam um die 90 Prozent, sind formell nicht angestellt, sondern fahren als »freie Dienstnehmer*innen«. Für sie greift die Vereinbarung nicht. Sie haben keinen Anspruch auf ein 13. und 14. Gehalt, erhalten keinen Mindestlohn und keinen Lohn im Krankheitsfall. Auch ein Kündigungsschutz fehlt.
»Als freie*r Dienstnehmer*in bist du eine von Tausenden Fahrer*innen, deren Namen und Gesichter völlig austauschbar sind«, kritisiert Mjam-Betriebsratschefin Adele Siegl den fehlenden Kündigungsschutz. Arbeitgeber Mjam bewirbt dieses Modell mit der vermeintlich attraktiven Flexibilität. Freie Dienstnehmer*innen könnten arbeiten, wann und so oft sie wollen. Siegl will dieses Argument nicht gelten lassen, denn die Freiheit und Flexibilität müssen sich die Radler*innen mit Sicherheit erkaufen: »Wir schreiben das Jahr 2021, Flexibilität sollte ein Arbeitsrecht sein – dafür sollte man nicht alle seine Arbeitnehmer*innenrechte verkaufen müssen.« Flexibilität sei durchaus mit einem normalen Dienstverhältnis vereinbar, inklusive aller tarifvertraglicher Sicherheiten.
Diese Situation wird von Gewerkschaften und Initiativen seit Bestehen des ersten Tarifvertrags kritisiert, wird letztlich aber nicht Teil der Verhandlungen sein, da es hierzu eine Änderung des Arbeitserfassungsgesetzes bräuchte. Für zehn Euro pro Monat werden freie Dienstnehmer*innen bei vida aber gerne als Gewerkschaftsmitglieder aufgenommen, um ihnen beispielsweise mit Beratungen zur Seite zu stehen. Von Seiten der Gewerkschaft wolle man nicht hinnehmen, »dass es in Österreich zweierlei Arten von Arbeitnehmer*innen gibt, die gegeneinander ausgespielt werden. Diesen Versuch macht das Kapital seit 180 Jahren«.
Aufwind könnte dem Versuch, freie Dienstnehmer*innen in den Tarifvertrag zu integrieren, der Entwurf einer neuen EU-Richtlinie zum Thema Plattformarbeit verleihen. Gerade in Branchen wie der Zustellbranche werden Personen, die die Kriterien eines regulären Angestelltenverhältnisses erfüllen, regelmäßig formell als Selbstständige geführt. Der derzeit in der Kommission diskutierte Entwurf widmet sich unter anderem der Bekämpfung von Scheinselbstständigkeit und sieht vor, die Beweispflicht umzukehren. Der Plattformbetreiber – nicht die*der Arbeitnehmer*in – soll künftig in der Pflicht sein, zu beweisen, dass eine Selbstständigkeit vorliegt beziehungsweise zu widerlegen, dass ein Angestelltenverhältnis vorliegt. Können Plattformbetreiber dies nicht, müssen Fahrer*innen als vollwertige Angestellte anerkannt werden – und erhalten damit alle tariflich festgelegten Vereinbarungen. Mjam-Betriebsrätin Siegl sieht in der EU-Initiative schon jetzt »einen riesigen Erfolg«, an deren Umsetzung und Implementierung man jetzt weiterarbeiten will.
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