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  • Psychische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen

Fehlendes Training im Sozialkontakt

In der Pandemie haben Essstörungen und Depressionen bei Heranwachsenden zugenommen. Die Politik muss verhindern, dass noch mehr Fälle entstehen, sagt Kinder- und Jugendpsychiater Ingo Spitczok von Brisinski

  • Ulrike Wagener
  • Lesedauer: 5 Min.
Wenig Kontakte zu Gleichaltrigen und wenig positive Erlebnisse: Die Pandemie wirkt sich auch langfristig auf die psychische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen aus.
Wenig Kontakte zu Gleichaltrigen und wenig positive Erlebnisse: Die Pandemie wirkt sich auch langfristig auf die psychische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen aus.

Infektionskrankheiten sind bei Kindern und Jugendlichen in der Pandemie eher zurückgegangen. Adipositas und Depressionen haben laut eines aktuellen Reports der DAK-Krankenversicherung deutlich zugenommen. Können Sie das aus Ihrer Praxis als Arzt bestätigen?

Ja. Und ich möchte das noch ergänzen um Magersucht und Schulabwesenheit. Das alles sind Problematiken, die deutlich zugenommen haben.

Warum gerade diese Krankheitsbilder?

Bei Kindern und Jugendlichen mit Übergewicht ist davon auszugehen, dass die sportliche Betätigung wegfällt, wenn sie – wie es im Lockdown vielfach der Fall war – den ganzen Tag zu Hause sind und gegebenenfalls mit dem Smartphone oder Computer beschäftigt. Dann verbrennen sie nicht genügend Kalorien und die Ernährung ist häufig einseitig. Oft kommt noch ein unregelmäßiger Schlafrhythmus hinzu.

Warum das Krankheitsbild der Anorexie so zugenommen hat, ist noch nicht geklärt. Aber man geht davon aus, dass sich die Patienten in der Pandemie mehr mit sich selber beschäftigen, beziehungsweise mit dem Essen, und der soziale Austausch und die Korrektur durch Gleichaltrige fehlt. Wenn man sich dazu noch auf Plattformen mit anderen austauscht, die gerne dünn sein wollen, wird es immer schwieriger, davon abzulassen.

Laut DAK-Report gibt es Unterschiede im Alter: Bei den 5- bis 9-Jährigen gab es einen Anstieg der Diagnose Adipositas um 16 Prozent. Bei den Älteren gab es kaum Veränderungen. Depressionen stiegen um rund 8 Prozent bei den 15- bis 17-Jährigen an, während diese Zahl bei den jüngeren Kindern sogar sank. Wie erklären sie sich das?

Es liegen meines Erachtens nicht genügend Daten vor, um diese Frage wirklich zu beantworten. Für den Bereich der Depression könnte ein Faktor sein, dass bei jüngeren Kindern die Symptome einer Depression oft untypisch sind und sie nicht unbedingt als solche erkannt wird. Eine weitere Erklärung könnte sein, dass bei Jugendlichen die Pubertät noch nicht abgeschlossen ist, da gibt es ohnehin eine gefühlsmäßige Verunsicherung. In der Pandemie kamen weitere Faktoren hinzu: Der Austausch mit Gleichaltrigen war deutlich eingeschränkt und positive Erlebnisse gab es nicht in gleichem Maße. Und wenn die Jugendlichen sich vermehrt drin aufhalten, am Rechner sitzen oder am Smartphone, fällt die natürliche Lichttherapie weg und das Risiko für Depressionen steigt.

Ist es für Kinder und Jugendliche schwerer, mit der sozialen Isolation im Lockdown umzugehen als für Erwachsene?

Ob das schwerer oder leichter ist für Kinder und Erwachsene, hängt immer vom einzelnen Typ ab. Aber grundsätzlich sind Kinder in ihrer Persönlichkeit noch nicht so gefestigt wie Erwachsene und viele Probleme werden im regelmäßigen Kontakt mit Gleichaltrigen gelöst. Wenn dieses tägliche Training im Sozialkontakt wegfällt, kann es schwieriger werden, wieder einzusteigen, wenn zum Beispiel die Schule wieder losgeht.

Welche Folgen wird das langfristig haben?

Wir sehen jetzt schon bei einzelnen Kindern und Jugendlichen, die sich vorher über Jahre in der Schule irgendwie durchgehangelt haben, dass sie den Weg nicht mehr zurückfinden. Das wird immer mehr zunehmen.

Ein großes Problem ist auch, dass es schon jetzt nicht genügend Behandlungsplätze für Patienten und Patientinnen mit Magersucht gibt. Dadurch, dass diese Erkrankung nun sehr zugenommen hat, verlängert sich die Wartezeit auf eine Behandlung und damit steigt die Gefahr, dass die Essstörung noch stärker ausgeprägt und chronisch wird, was die Behandlung noch schwieriger macht.

Welche Rolle spielen soziale und ökonomische Faktoren?

Grundsätzlich steigt mit niedrigem Einkommen das Risiko für Adipositas und für psychische Erkrankungen insgesamt. Das war aber schon vor der Pandemie so.

Ist es möglich, die Auswirkungen der Pandemie wieder rückgängig zu machen?

Depressionen lassen sich einigermaßen gut behandeln und können wieder abklingen. Aber wir wissen, dass, wenn jemand erst einmal adipös ist, man durch entsprechende Diäten vielleicht für ein paar Monate ein paar Kilos runterkriegt, aber das ist nicht von Dauer. Bei Anorexie wissen wir, wenn erst mal das Vollbild da ist, dann braucht das meistens Jahre, bis es wieder beherrscht ist. Insofern wird sich das nicht so schnell zurückbilden. Was politisch getan werden kann, ist zu verhindern, dass noch mehr Leute Magersucht oder Übergewicht bekommen und noch mehr depressiv werden.

Was sollte die Politik hier tun?

Ganz wichtig ist, dass der regelmäßige Austausch unter Gleichaltrigen im Alltag bestehen bleibt – und zwar nicht nur der virtuelle. Das heißt, die Schulen sollten offen bleiben. Aber es sollten möglichst auch außerhalb der Schule Aktivitäten und Möglichkeiten angeboten werden, sich zu treffen, eine gute Zeit miteinander hat, in der man sozial voneinander lernen kann und eben Bestätigung bekommt und dadurch ein stärkeres Selbstwertgefühl. Und diese Angebote müssen für die Kinder und Jugendlichen so attraktiv sein, dass sie nicht nur zu Hause am Smartphone hängen.

Was sicherlich auch erforderlich ist, ist ein vermehrtes Angebot an psychotherapeutischen Kinder- und jugendpsychiatrischen Behandlungsmöglichkeiten.

Lässt sich denn hier ein Angebot so schnell ausbauen?

Es ist nicht so, dass da beliebig viele Psychologen und Kinder- und Jugendpsychiater auf dem Arbeitsmarkt warten. Da wäre es erforderlich, dass die Politik mehr Studienplätze zur Verfügung stellt für die Humanmedizin. Und es wäre natürlich auch wichtig, dass solche Fächer, die mit der Psyche der Kinder und Jugendlichen zu tun haben, mehr in den Vordergrund rücken. Bisher ist Kinder- und Jugendpsychiatrie nur ein ganz kleines Fach, kein Pflichtfach im Medizinstudium, und das rächt sich an der Stelle.

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