Chile vor Rückkehr zu einem neoliberalen Faschismus?

Der Vizepräsident des Verfassungskonvents Jaime Bassa Mercado über die Stichwahl und den Reformprozess

  • Interview: Leonel Yañez, Übersetzung und Bearbeitung: Ute Löhning
  • Lesedauer: 5 Min.

Herr Bassa, wie bewerten Sie die bisherige Arbeit des Verfassungskonvents?

Wir haben fünf Monate intensiver, harter Arbeit hinter uns. Denn schon am 5. Juli, einen Tag nach der ersten Sitzung des Konvents, fiel die zweite Sitzung aus. Die technischen, sanitären und administrativen Voraussetzungen waren nicht gegeben. Praktisch aus dem Nichts haben wir dann den institutionellen Rahmen mit der Unterstützung von Universitäten und anderen Einrichtungen selbst aufgebaut. Das ist uns gut gelungen. Aber es wurde klar, dass die Regierung (die den verfassungsgebenden Prozess in Chile organisieren muss, Anm. UL) diesen Prozess nicht unterstützt. Ihr Verhalten zum verfassungsgebenden Prozess ist zwiespältig - manchmal dafür, oft sogar dagegen.

Interview
Jaime Bassa Mercado ist Vizepräsident des chilenischen Verfassun...

Jaime Bassa Mercado ist Vizepräsident des chilenischen Verfassungskonvents. Der 44-jährige Jurist mit Schwerpunkt auf Verfassungsrecht leitet an der Universität von Valparaíso die Fakultät für Öffentliches Recht.

 

Im Mai 2021 wurde Bassa als unabhängiger Kandidat auf der Liste des linken Bündnisses Apruebo Dignidad (Ich stimme der Würde zu, d. Red.)) für den Wahlkreis rund um Valparaíso und Viña del Mar in den Verfassungskonvent gewählt. Er ist Mitglied in der Kommission Politisches System, Regierung, Legislative, Wahlsystem.

 

Der Verfassungskonvent hat innerhalb von drei Monaten sein internes Regelwerk definiert, in dem festgelegt ist, für welche Abstimmungen welche Mehrheiten nötig sind. Sieben thematische Kommissionen oder Ausschüsse wurden eingerichtet, die parallel tagen und verschiedene Aspekte der neuen Verfassung bearbeiten. Dazu gehören Fragen der Staatsform, der Garantie grundlegender sozialer Rechte und vieles mehr. Auf welche Schwierigkeiten sind Sie dabei gestoßen?

Heute hat der Konvent eine funktionsfähige Struktur. Ich denke, wir haben bisher gute Arbeit geleistet. Aber wir hatten Schwierigkeiten, diese Arbeit an die Bevölkerung zu kommunizieren. Das lag vor allem an einer organisierten Social-Media-Attacke gegen den Verfassungskonvent. Ganze Bataillone von Bots und Fake-Accounts haben eine Schmähkampagne gegen unsere Arbeit losgetreten. Außerdem gab es auch interne Angriffe.

Mitglieder des Verfassungskonvents, die der extremen Rechten zuzuordnen sind, wollen den verfassungsgebenden Prozess zum Scheitern bringen. Denn sie vertreten immer noch das politische Projekt der Diktatur und deren Verfassung. Mit dieser Kampagne und den permanenten Attacken gegen den Konvent und seine Präsidentin umzugehen, ist eine große Herausforderung.

Am Sonntag wird sich in der Stichwahl entscheiden, ob der linke Gabriel Boric oder der extrem rechte José Antonio Kast neuer Präsident Chiles wird. Welche Hindernisse oder auch Möglichkeiten wird die Wahl des einen oder des anderen Kandidaten mit sich bringen?

Wir befinden uns in einer sehr komplexen historischen Situation, in der wirtschaftliche, soziale und politische Unsicherheiten bei der Bevölkerung Ängste auslösen. Zur chilenischen politischen Ideologie gehören die Idee einer permanenten Ordnung und die Bedrohung durch das Chaos als destabilisierender Faktor. Das hat der Kandidat der extremen Rechten Kast sehr effektiv genutzt und (im ersten Wahlgang am 21.11., Anm. UL) ein starkes Wahlergebnis erzielt, das uns sehr überrascht hat. Wir sprechen von der Rückkehr zu einem neoliberalen Faschismus, der der Demokratie so viel Schaden zugefügt hat.

Aber der Verfassungskonvent hat ein Mandat von der Bevölkerung erhalten: über das Referendum im Oktober 2020 und die Wahlen des Konvents im Mai 2021. Dieses Mandat werden wir wahrnehmen, unabhängig davon, wie die Präsidentschaftswahl ausgeht. Da der Kandidat der extremen Rechten sich bereits offen gegen unsere Arbeit ausgesprochen hat (und 2020 bereits zum Referendum für das »Rechazo«, die Ablehnung des verfassungsgebenden Prozesses mobilisierte, Anm. UL), würde es jedoch große Schwierigkeiten für unsere weiteren Vorhaben bedeuten, sollte er zum Präsidenten gewählt werden.

In diesem Fall würde ich erwarten, dass er eine beobachtende Position, eine Art Statistenrolle einnähme und die aktuelle Arbeit und die demokratischen Prozesse akzeptiert. Aber ich weiß nicht, ob die radikale Rechte die Institutionen so respektieren würde, wie man es erwarten sollte. Es wird eine schwierige, komplexe Zeit auf uns zukommen. Aber wir werden unser Mandat bis zum Ende ausführen.

Der verfassungsgebende Prozess wurde erst durch die breite Protestbewegung ermöglicht, in der ab Oktober 2019 soziale Forderungen, indigene Positionen, feministische und ökologische Forderungen zusammengeflossen sind. Auch deshalb ist die Arbeit der Kommission für Partizipation, also Teilhabe oder Beteiligung der Bevölkerung, sehr wichtig. Was kann diese Kommission leisten?

Die Sehnsucht und die Forderung nach Teilhabe haben eine zentrale Bedeutung im verfassungsgebenden Prozess. Dabei geht es nicht nur um politische Partizipation an Entscheidungsprozessen, sondern auch um wirtschaftliche, soziale und kulturelle Partizipation im Sinne von Teilhabe am gemeinschaftlichen Leben. Der Verfassungskonvent ist zweifellos das repräsentativste Gremium in der Geschichte Chiles. Aber das reicht noch nicht. Wir brauchen neben der Repräsentation auch Mechanismen der Teilhabe.

In einem offenen Brief kritisieren Sie zusammen mit anderen Mitgliedern des Verfassungskonvents die Ineffizienz des chilenischen Staates und fordern eine Abkehr vom präsidialen hin zu einem parlamentarischen System. Welche Perspektive sehen sie langfristig für Chile?

Eines der Hauptprobleme, die wir heute in unserem Land haben, liegt in der Konzentration von Macht und Reichtum. Daher brauchen wir Institutionen, die nicht nur der Repräsentation und der Partizipation dienen, sondern auch der Dekonzentration der politischen Machtausübung. Es geht um eine Verschiebung von Macht hin zu einer parlamentarischen Macht, im Sinne einer Dezentralisierung hin zu einer regionalen oder gar föderalen Struktur des Staates, aber auch über Institutionen, die eine Umverteilung des Reichtums ermöglichen.

Dabei geht es nicht nur um die Rolle des Steuersystems, sondern vor allem um die universelle und wirksame Garantie sozialer Rechte: Gesundheit, Arbeit, Wohnung, Bildung und soziale Sicherheit. Denn das sind Bereiche im Leben einer Familie, einer Person, eines Viertels, eines Landes, die die materiellen Voraussetzungen für die gleichwertige Eingliederung der Menschen in das Gemeinschaftsleben definieren.

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