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Wo die wilden Leser wohnen
Gegen das Elend helfen nur Bücher: Zum Tod des Verlegers Klaus Wagenbach
Eine Wiese für einen Verlag. 1964 gründete Klaus Wagenbach den nach ihm benannten Verlag in Westberlin, nachdem er ein Grundstück seines Vaters verkauft hatte. Dieser kam aus der Bodenreformbewegung, in der man luftige und helle Siedlungen statt enger Mietskasernen bauen wollte, wie es ihr Vordenker Adolf Damaschke vorgeschlagen hatte. Wagenbach baute lieber einen Verlag auf, der mit dem Spruch »der unabhängige Verlag für wilde Leser« warb. In den bleiernen 60er Jahren des CDU-Staats war das sehr fantasieanregend.
Wagenbach hatte beim Suhrkamp-Verlag Buchhändler gelernt, Germanistik studiert und 1957 über Kafka promoviert. Ihm war aufgefallen, das dieser Autor im postfaschistischen Westdeutschland als »Heiliger« oder »Prophet« gefeiert wurde, wie er später zurückblickte, denn es war damals für Leser und Schreiber »am einfachsten, sich eine von Deutschen beschädigte Welt als ›kafkaesk‹ zurechtzulegen, als unerklärlich und rätselhaft«. An diesen speziell brutalen wie verlogenen deutschen Verhältnissen ist dann auch Ulrike Meinhof gestorben, wie Wagenbach 1976 an ihrem Grab feststellte. Für ihn war die berühmte Journalistin, die zur RAF-Führungsfigur wurde und sich als Gefangene in Stuttgart-Stammheim erhängte, eine der »klarsten Kritikerinnen des Kapitalismus in der Bundesrepublik Deutschland«.
Sie war auch eine seiner berühmtesten Autorinnen, neben Erich Fried, Ernst Jandl, dem frühen Wolf Biermann, Stephan Hermlin, Günter Grass, Johannes Bobrowski oder Ingeborg Bachmann. Gesucht waren »wilde Leser« als potenzielle Gesellschaftsveränderer. Für die gab es nicht nur Bücher, die schwarz kartoniert als »Quarthefte« erschienen, sondern auch Schallplatten (auf denen zum Beispiel Jandl mit seinen Gedichten zu hören war) und Zeitschriften, weil die schneller veröffentlicht werden können: Zuerst den »Tintenfisch«, den er 1968 mit dem späteren Hanser-Verleger Michael Krüger gründete, ab 1970 das »Kursbuch« von Hans Magnus Enzensberger, nachdem Suhrkamp das zu der Zeit wichtigste Magazin für Linksintellektuelle nicht mehr wollte, und ab 1979 den »Freibeuter«.
Über seinen Freund Krüger schrieb Wagenbach, als er ihm zum 60. Geburtstag gratulierte: »Er trotzt dem Elend. Denn dem Elend ist bekanntlich nur mit Büchern beizukommen. Also muß jedes neu zutage tretende Elend mit Büchern bekämpft werden.« Das könnte auch gut für das Wagenbach’sche Wirken gegen den Status quo stehen. Denn die Bücher sind natürlich nicht elendig, sondern frei und bunt und schillernd. Wie die angestrebte bessere Gesellschaft. Oder das quirlige Italien, das alte Sehnsuchtsland der deutschen Linken: Das gute Essen, das schöne Wetter. Außerdem waren die Linksradikalen nirgends größer und vielgestaltiger - allerdings wurden sie dann auch nirgends so stark in die Auflösung getrieben.
Literatur aus Italien gab es bei Wagenbach auch, nachdem sich die Linke dort als gestalterische Kraft verabschiedet hatte. Dafür wurde der Verlag vom italienischen Kulturministerium ausgezeichnet. Zusätzlich gab es im Programm konstant die wichtigen Alten (Virginia Woolf, Dunja Barnes) neben dem wichtigen Neuen: »Ausweitung der Kampfzone«, das erste und beste Buch von Michel Houellebecq, erschien in deutscher Übersetzung bei Wagenbach. Und viel Kunstwissenschaft, nachdem die explizit politischen Sachbücher nicht mehr liefen.
Aber wie macht man Bücher? Wagenbach wollte eigentlich ein basisdemokratisches Modell für seinen Verlag. Aber er wollte als Lektor keine Mehrheitsentscheidungen in Verlagsversammlungen gegen einzelne Bücher. Denn es gibt ein großes Problem für linke Verlagskollektive, das er 1981 festhielt: »Autoren möchten selbstverständlich gern alles von sich (und ihren Freunden) gedruckt sehen, ein Verlag kann aber eben nicht alles drucken, er muss auswählen: programmatisch, ästhetisch, technisch.« Und so steht der Lektor mitunter gegen das Kollektiv.
Wagenbach hat überlegt, warum Kollektive teilweise so harsch auftreten. Er glaubt, weil die Mitglieder ihre Wünsche nicht offen zugeben: »Der Wunsch nach Stallwärme von denjenigen, die keine Familienwärme hatten. Der Wunsch nach Gesprächen von denjenigen, die stumm gehalten wurden. Der Wunsch nach Gleichheit von denjenigen, die sich ungleich fühlten. Der Wunsch nach Nähe von denjenigen, die man von allem ferngehalten hatte.« All diese Wünsche als Kollektiv zu ertragen, schafft laut Wagenbach kein Kollektiv auf Dauer, »zumal wenn noch eine ebenso große Last an hinter ihnen stehenden Defekten hinzukommt«.
Und so kam es, dass Wagenbach 1973 nach einer verlorenen Abstimmung den nach ihm benannten Verlag verließ, der fortan Rotbuch hieß. Und Wagenbach gründete wieder einen Verlag, der so heißt wie er. Doch weil man zusammen stärker ist, rief er 1989 mit 50 Intellektuellen den Verlag Artikel 19 ins Leben, um die deutsche Übersetzung der »Satanischen Verse« von Salman Rushdie herauszugeben, gegen die Todesdrohungen aus Teheran.
Über den Dichter Erich Fried, vermutlich sein meistverkaufter Autor, hat Wagenbach in einer Rede 1996 gesagt, dessen »eigentliche Arbeit« wäre gewesen: »Fragen zu stellen, Geschichte und Erfahrungen vorzustellen in einer auf Vergessen angelegten Gesellschaft«. Über ihn selbst lässt sich das ebenfalls sagen. Nun ist er in Berlin gestorben, am Freitag im Alter von 91 Jahren.
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