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Mit den Folgen der Flutkatastrophe leben
Zwischen Schlamm und Zerstörung sorgen selbstorganisierte Hilfsprojekte für Hoffnung im Ahrtal
Samstag vor Weihnachten auf dem Marktplatz in Ahrweiler. Vor einem Holzhäuschen steht ein Pavillon, Heizstrahler sorgen dafür, dass es warm ist. An der Holzbude gibt es Kaffee. Viele Menschen kommen hier vorbei, holen sich ein Getränk, bleiben für ein kurzes Schwätzchen stehen. Wer nicht nach links und rechts schaut, könnte die Kaffeebude für einen Teil eines Weihnachtsmarkts halten. Doch das ist sie nicht. Die Bude ist ein kleiner Teil der Katastrophenbewältigung im Ahrtal. Nach der Flut im Sommer sieht in dem kleinen Städtchen fast noch nichts so aus, wie es einmal war. Für die Anwohner ist noch lange nicht an Normalität zu denken.
Am Mittag trifft Janine Wissler an der Kaffeebude ein. Die Co-Vorsitzende der Linken wollte noch in diesem Jahr in die Flutgebiete reisen. Am Morgen war sie im nordrhein-westfälischen Erftstadt und hat die Abbruchkante, die mehrere Häuser mit sich riss und deren Bilder um die Welt gingen, angeschaut. Bis zum Abend ist sie in Ahrweiler. An der Bude setzt sich Wissler zu drei Männern, die unter den Heizstrahlern ihren Kaffee trinken. Das Gespräch kommt aber nicht so richtig in Gang. Erst als sich Marion Morassi dazusetzt, die für Die Linke im Stadtrat sitzt, tauen auch die anderen auf. Morassi erzählt, wie sie die Flutnacht vom 14. zum 15. Juli erlebt hat und von den vielen Ärgernissen danach. Schnell wird in den Themen gesprungen, von heute heiteren Anekdoten: »Und dann ist mein Auto durch die Straße geschwommen, als ich aus dem Fenster geschaut habe«; über Tragödien von Menschen, die in der Flut umgekommen sind oder schwer traumatisiert wurden; bis zu den alltäglichen Unwägbarkeiten nach der Flut. Handwerker sind noch immer schwer zu bekommen. Es gibt oft Ärger mit Anträgen; Versicherungen sind so manches Mal zahlungsunwillig, und die 13 000 Euro Soforthilfe reichen bei vielen nicht aus, um die Wohnungen zu renovieren. Janine Wissler hört zu und stellt Fragen, wenn sie dem Jargon der Betroffenen nicht mehr folgen kann. In Gesprächen reichen hier offenbar schon Abkürzungen oder Nachnamen, damit man weiß, was von einem Vorschlag oder einer Entscheidung zu halten ist.
An der Kaffeebude, die Tamara Segers und Reinhard Boll aufgestellt haben, können die Leute über die kaum für möglich gehaltene Katastrophe sprechen, aber sie können sich ebenso über Alltägliches austauschen. Ein Treffpunkt soll sie sein. Die beiden Mittfünfziger kommen aus dem Münsterland, sind kurz nach der Flut mit ihrem Wohnmobil hergekommen und haben Kaffee verteilt. Inzwischen gibt es die Holzbude und einen Bauwagen. Das Paar will auch ins Ahrtal ziehen und dauerhaft einen Raum für Kommunikation schaffen. Dafür haben sie mit anderen zusammen einen Verein gegründet und Projektanträge geschrieben. Ihre alten Jobs haben Tamara Segers und Reinhard Boll schon gekündigt. Dass sie ausgerechnet ins Ahrtal ziehen, wo der Ausnahmezustand anhält, hat auch mit ihrer eigenen, von Katastrophen geprägten Geschichte zu tun. Ihr Sohn ist schwer erkrankt, sein Leben stand auf der Kippe. Außerdem war das Haus, das sie gekauft hatten, schadstoffbelastet und unbewohnbar. Die Familie lebte über Jahre in Provisorien. Reinhard Boll erzählt, dass sie sich deswegen ein bisschen in die Menschen an der Ahr reinversetzen können. Hierher wollen sie ziehen, weil sie hier sinnvolle Aufgaben übernehmen können. Wissler ist von ihrem Engagement sichtlich beeindruckt.
Die frisch gebackene Bundestagsabgeordnete möchte Eindrücke von verschiedenen Projekten bekommen, wie alle Politiker, die in ein Katastrophengebiet reisen. Oft wird bei solchen Stippvisiten mit den Betroffenen nur kurz und für die Kamera gesprochen. Meistens haben Politiker dabei eine Botschaft im Gepäck, die sie gerne und oft wiederholen. Wichtiger sind ihnen, so scheint es manchmal, die Treffen mit Kommunalpolitikern und Funktionären. Wissler dagegen will zuallererst zuhören.
Das liegt vielleicht auch daran, wer sie durch Ahrweiler führt. Marion Morassi und Wolfgang Huste sind ein Paar und selbst in der Lokalpolitik für Die Linke aktiv. Huste betreibt fast direkt am Marktplatz ein Antiquariat. Erdgeschoss und Keller sind im Juli komplett geflutet worden. Das Geschäft hat große finanzielle Schäden erlitten. Trotzdem geht es weiter. An der Stadtmauer von Ahrweiler ist eine Pop-up-Mall entstanden. Dort stehen viele Container nebeneinander, die Gastronomen und Einzelhändler anmieten können. Von der Pizza bis zur Wohnungsdeko gibt es hier vieles. Mit der weihnachtlich beleuchteten Stadtmauer sehen die Container in der Abenddämmerung sogar ganz erträglich aus. In einem solchen Provisorium hat Wolfgang Huste sein Antiquariat eingerichtet. Nur einen Bruchteil der Bücher und Bilder, die er im Bestand hat, kann er hier anbieten. Trotzdem betreibt er das Geschäft weiterhin mit Leidenschaft. Zu vielen Gegenständen, die er verkauft, weiß er Geschichten zu erzählen. Mit dem Antiquariat im Container will er ein Zeichen setzen, dass es weitergeht. Ein paar Stammkunden kämen bereits wieder vorbei. Im Gespräch mit Janine Wissler sind Marion Morassi und er nicht nur Parteifreunde, sondern auch Betroffene. Sie erzählen ihr, wie es war, als sie nach der Flut das erste Mal wieder duschen konnten oder wie wichtig die Treffpunkte sind. Morassi berichtet, dass viele Menschen zwar wieder Strom und Wasser hätten, aber viele Häuser seien gerade in den Erdgeschossen noch Rohbauten. Das sei »nicht wirklich gemütlich«.
Einer der beliebten Treffpunkte ist die Ahrche direkt am Fluss. Auf dem Gelände eines Campingplatzes, der im Juli fast völlig zerstört wurde, ist eine kleine Stadt aus Containern, Zelten, Holzhütten und Wohnwagen entstanden. Es sieht ein bisschen wie ein improvisiertes Festivalgelände aus. Die Straßen ringsum, in denen sich noch immer Trümmer sammeln und in denen kaum ein Haus Fenster hat, sehen weiterhin wüst aus.
Lucas Bornschlegl erzählt, wie die Ahrche entstanden ist. Im Juli sei er gerade in den Urlaub gefahren, als er die Nachrichten aus seiner Heimat gehört habe und sofort zurückgekehrt sei. Zwar sei er bei der Freiwilligen Feuerwehr, doch er habe sich gefragt, wie er darüber hinaus helfen könne. Angefangen habe es ein paar Tage nach der Flut mit einem Lichtmasten, einem Generator zum Handy-Aufladen und einer Dusche. Mittlerweile gibt es hier einen Trägerverein, der täglich warme Mahlzeiten, Hilfe bei Antragstellungen, Kino für Kinder und ein Turnzelt anbietet. Bornschlegl berichtet von den Aktivitäten des Vereins, was effizient hilft und was alles selber organisiert werden kann. Mit einem Projekt haben sie mehrere Hundert provisorische Heizungen aufgebaut, mit denen jeweils ein Raum beheizt werden kann. Auch über ihre Erfahrungen mit den Behörden tauscht sich die Runde aus. Dass auf dem städtischen Gelände am Fluss die Zelte der Ahrche stehen dürfen und nicht die Verleihstation eines kommerziellen Baumaschinenverleihers finden alle gut. Unmut herrscht dagegen über die beiden neuen Brücken in Ahrweiler. Die Querung für Autos verbindet beide Ortsteile ziemlich direkt miteinander, sie wurde im Herbst als provisorischer Neubau eröffnet. Die Fußgängerbrücke dagegen ist über einen Umweg zu erreichen; barrierefrei ist sie auch nicht. Also nehmen die meisten Menschen, wenn sie zu Fuß unterwegs sind, die Autobrücke. Das ist keine gute Planung, da sind sich alle einig.
Auf dem Rückweg in die Altstadt geht es an einem bunt geschmückten Truck vorbei, von dem Geschenke an Kinder und Erwachsene verteilt werden. Eine ähnliche Aktion fand schon am Mittag statt. Verschiedene Organisationen machten das gerade, sagt Marion Morassi. Die Linke bekomme am nächsten Tag von Genossen aus Dessau Besuch, erzählt sie. Auch sie wollen Geschenke verteilen. Auch bei solchen Verteilaktionen kommen Nachbarn und Bekannte zusammen. Morassi spricht von vielen Freundschaften, die seit der Katastrophe entstanden seien. Ganz unterschiedliche Menschen hätten sich nach der Flut gegenseitig geholfen. Ob Die Linke davon profitieren wird, das könne sie nicht sagen. Man sei halt betroffen »wie viele andere Kommunalpolitiker in der Region« auch. Janine Wissler erklärt am Ende ihres Besuchs, es sei bedeutsam, die Situation vor Ort erlebt zu haben und zu sehen, wie die Betroffenen der Katastrophe unterstützt werden können. Im Wahlkampf sei es für sie noch ein »No-Go« gewesen, ins Ahrtal zu reisen. Sie wollte keinen Politiktourismus betreiben und in Gummistiefeln posieren. Sie mochte nicht, dass sich die Betroffenen der Flut als »Wahlkampfkulisse« fühlen. Inzwischen habe sich die Situation aber verändert. Jetzt könne ein Besuch »Aufmerksamkeit« bringen, weil die Katastrophe weitgehend aus der »öffentlichen Wahrnehmung verschwunden« sei. Zwei Aspekte haben Wissler besonders beeindruckt: Zum einen habe sie durch die Schilderungen der Menschen noch mehr »erkannt, wie furchtbar diese Katastrophe war«. Zum anderen habe sie gesehen, »welche großartige Solidarität es hier gibt und wie viele Projekte in Selbstverwaltung teilweise staatliche Strukturen ersetzen, die ja offensichtlich anfangs nicht da waren und auch jetzt noch fehlen«.
Mit den Orten, an denen es Kaffee, Essen oder Kleidung gibt, den geschmückten Bäumen, die vor Spanplatten mit der Botschaft »Wir bauen wieder auf!« stehen, und leeren, aber mit Lichterketten geschmückten Häusern, vermittelt Ahrweiler den Eindruck von einem Idyll, das den widrigen Umständen trotzt. Die Menschen reden viel miteinander. Meistens scheinen sie zuversichtlich zu sein. Vielleicht liegt es an der Weihnachtszeit oder daran, dass viele professionelle und ehrenamtliche Helfer noch immer im Flutgebiet sind. Vielleicht wird die Stimmung an einem frostigen Januarmorgen eine andere sein.
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