- Politik
- Auflösung der Sowjetunion
Vergessene Vergangenheit
Angesichts schwerer werdender Lebensbedingungen blicken viele Russen nostalgisch auf die untergegangene Sowjetunion
Wie erinnern sich die Russen an die Sowjetunion? Welche Gefühle verbinden sie noch mit der untergegangenen Supermacht? Und was wissen sie über den Aufbau und die Geschichte des ersten kommunistischen Staates der Erde?
Diese Fragen stellte sich die Moskauer Wirtschaftszeitung »RBK« anlässlich des 30. Jahrestages des Zusammenbruchs der Sowjetunion. Auf der Suche nach Antworten beauftragten die Journalisten das staatliche Umfrageinstitut Wziom mit einer Untersuchung. Was die Meinungsforscher in insgesamt 1600 Telefoninterviews herausfanden, sorgte Anfang Dezember für Schlagzeilen in russischen Medien.
Olga Hohmann versteht nicht, was Arbeit ist und versucht, es täglich herauszufinden. In ihrem ortlosen Office sitzend, erkundet sie ihre Biografie und amüsiert sich über die eigenen Neurosen. dasnd.de/hohmann
Fast ein Fünftel der Befragten könne die Abkürzung UdSSR nicht mehr korrekt dechiffrieren, staunten Zeitungen und Onlineportale. Elf Prozent der Umfrageteilnehmer wissen nicht mehr, dass die fünf Buchstaben ein Akronym sind - und für die Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken stehen. Acht Prozent könnten die Abkürzung nur mit Fehlern entschlüsseln. Vor allem die Generation der 18- bis 24-Jährigen konnte die Frage nach der UdSSR nicht korrekt beantworten. Sie verbindet den untergegangen Staat vor allem mit dessen Flagge, Wappen und Hymne.
Auch bei Fragen zur Geografie der Sowjetunion schwächelten die Russen. Nur sechs Prozent können sich noch an die Namen aller 15 früheren Republiken erinnern. Ganze 27 Prozent konnten keine einzige nennen. Sogar die russische Teilrepublik RSFSR, auf deren Grundlage die heutige Russländische Föderation entstand, ist erstaunlicherweise ziemlich in Vergessenheit geraten. Nur 28 Prozent der Umfrageteilnehmer kannten die größte und bevölkerungsreichste Republik der Sowjetunion. Genauso viel erinnerten sich an das seit 1991 völlig abgeschottete Turkmenistan
Während das Wissen über die Sowjetunion langsam schwindet, verbinden die meisten Menschen vor allem positive Gefühle mit der kommunistischen Weltmacht. Bei mehr als 80 Prozent der Befragten überwiegen Erinnerungen an soziale Sicherheit, Stabilität, Vertrauen in die und das Zusammenleben unterschiedlicher Völker in einem multinationalen Staat.
Die dunklen Seiten der Sowjetzeit sind hingegen in Vergessenheit geraten. Nur ein Prozent verbindet den kommunistischen Staat mit Terror und Erschießungen der Stalin-Zeit, Repressionen gegen Andersdenkende und dem Gulag-System. Diese Assoziationen sind vor allem unter jüngeren Menschen verbreitet. Fünf Prozent erinnern sich an die Mangelwirtschaft mit leeren Regalen und langen Schlangen vor den Geschäften.
Unter russischen Wissenschaftlern stießen die Ergebnisse der Untersuchung auf ein gemischtes Echo. »Das Vorherrschen positiver Assoziationen mit der Sowjet-Ära steht in vollem Einklang mit der Forschung der letzten Jahre«, betonte beispielsweise der Politologe Alexander Poschalow, der die Forschungsabteilung der Stiftung »Institut für sozio-ökonomische und politische Forschung« (ISEPI) leitet, welche 2012 von Mitgliedern der Präsidialadministration gegründet wurde. Je schwieriger die wirtschaftliche und soziale Lage im Lande, desto größer sei die Nostalgie für die Sowjetepoche - und die Herrschaft von Josef Stalin, schreibt Poschalow im Wirtschaftsblatt »RBK« mit Verweis auf aktuelle soziologische Studien. Vor allem unter Männern sei die Sehnsucht nach der Sowjetzeit und dem starken Staat sehr verbreitet, schreibt der Wissenschaftler. Sie seien auch weniger zufriedener mit Lage im Land. Russische Frauen verbänden die Sowjetunion stärker mit persönliche Erinnerungen an die eigene Jugend, Pionierlager oder das erste Kind.
Dennis Sommer, der bei der Nichtregierungsorganisation »Institut für innovative Entwicklung« das Zentrum zur Erforschung der Zivilgesellschaft leitet, bewertet die Umfrageergebnisse wesentlich kritischer. Für ihn liegen die Gründe der Sowjetnostalgie vor allem an der gesunkenen Qualität des Geschichtsunterrichts in Russlands Schulen. Bei der Einheitlichen Landesweiten Prüfung (EGE) - dem russischen Äquivalent zum Abitur - würde historisches Wissen nur anhand von Ankreuzbögen abgefragt. Kritisches Denken und ein reflektierter Umgang mit der eigenen Vergangenheit würden so nicht gefördert, wird Sommer vom Internetportal »Swobodnaja Pressa« (Freie Presse) zitiert.
Noch grundsätzlicher wird der Historiker Sergej Medwedjew von der Moskauer High School of Economics. Die festgestellte Sowjetnostalgie sei ein direktes Ergebnis der staatlichen Propaganda in den Bereichen Ideologie und Geschichte, erklärte Medwedjew Anfang des Monats im Gespräch mit dem unabhängigen Internet-TV-Sender Doschd. Die staatliche Medien hätten bei breiten Massen die historische Erinnerung an die Sowjetunion und konkrete Ereignisse ihrer Geschichte mittlerweile völlig verdrängt - und durch den Mythos vom starken und erfolgreichen Staat ersetzt. »Das ist so eine Art Quasireligion«, urteilt Medwedjew und verweist auf den Prozess gegen Russlands älteste Menschenrechtsorganisation Memorial, deren Auflösung die Behörden beantragt haben. Verschwände Memorial, würden auch die Leiden der Opfer von Repression und Terror vergessen. Russland brauche eine stärkere Bildungspolitik, historische Diskussionen in der Öffentlichkeit und weniger Propaganda, so Medwedjew.
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