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Der Totengräber der Sowjetunion
Michail Gorbatschow scheiterte mit der Perestroika und überwarf sich mit Honecker: Erinnerungen des letzten Generalsekretärs der SED
Es war am 29. Mai 1987: Die Berliner Tagung der Staaten des Warschauer Vertrages im Palasthotel war gerade zu Ende gegangen, da bat mich ein Mann aus dem Arbeitsstab von Außenminister Schewardnadse um ein persönliches Gespräch. Weil ich ihn seit Anfang der 60er Jahre aus gemeinsamer Jugendarbeit kannte, verzichteten wir auf jede diplomatische Zurückhaltung. Seine Kernbotschaft an mich lautete: »Gorbatschow gibt es in Varianten.« Damals wollte ich diesen Satz nicht wahrhaben. Ich fand ihn ungerecht. Ich glaubte irrtümlich, die »Perestroika« ginge - wie Gorbatschow selbst sagte - auf Lenin zurück und war nach seiner Interpretation die »zweite Oktoberrevolution«.
Das Institut für Jugendforschung in Leipzig hatte junge Leute befragt, wie sie über Gorbatschow denken: Mutig, ehrlich, ideenreich, geradlinig, zukunftsweisend, problemoffen, energisch, kritisch, glaubwürdig - dies waren die häufigsten Attribute, die sie damals dem sowjetischen Parteiführer zuschrieben. In der DDR gab es zu dieser Zeit eine Gorbi-Euphorie, auch wenn manche Zeitgenossen dies heute nicht mehr wahrhaben wollen. Hartmut König, Jochen Willerding (beide gehörten dem Zentralkomitee der SED an) und ich arbeiteten 1986 eine Analyse der »Perestroika« für Erich Honecker aus, um seine Skepsis gegenüber dem KPdSU-Generalsekretär verringern zu helfen. Uns ging es um eine gemeinsame Strategie der DDR und der UdSSR. Ohne sie - das war uns klar - habe die DDR keine Zukunft.
Olga Hohmann versteht nicht, was Arbeit ist und versucht, es täglich herauszufinden. In ihrem ortlosen Office sitzend, erkundet sie ihre Biografie und amüsiert sich über die eigenen Neurosen. dasnd.de/hohmann
Das Rätsel Gorbatschow
Seit der Wahl Gorbatschows zum Generalsekretär der KPdSU im März 1985 bis Anfang Dezember 1989 habe ich an allen Spitzentreffen im Rahmen des Warschauer Vertrages teilgenommen. Je näher ich ihn persönlich kennenlernte, desto mehr wuchs die Zahl der Rätsel, die er mir aufgab. Ich erlebte ihn als einen sich ständig korrigierenden und neu interpretierenden Menschen, dessen Konzeption schwer erkennbar war. Jetzt begriff ich die Beobachtungen meines Moskauer Freundes besser. Offensichtlich waren politische und charakterliche Verhaltensmuster Gorbatschows, die zum gesellschaftlichen Chaos der Perestroika führten, schon damals angelegt. Die volle Wahrheit über ihn werden möglicherweise erst unsere Enkel erfahren, wenn alle Archive der UdSSR, der USA und auch der westdeutschen Geheimdienste geöffnet sind.
Was das Verhältnis von Honecker und Gorbatschow betrifft, so war es aber anders belastet, als häufig angenommen wird. Es rührt aus Zeiten, lange bevor die Vokabel »Perestroika« in der Politik auftauchte. Besonders in zwei Fragen hatten sie entgegengesetzte Auffassungen: Honecker suchte trotz Abgrenzung den Ausgleich mit der Bundesrepublik Deutschland. Gorbatschow sah dies mit Misstrauen und stellte unserer Politik nicht wenige Hindernisse in den Weg. Während sich Honecker für gute Beziehungen zur Volksrepublik China engagierte, hielt ihm Gorbatschow warnend entgegen: Die Beziehungen der DDR zum Reich der Mitte dürfen nicht besser sein als die der UdSSR zur Volksrepublik. Auch hier unternahm Gorbatschow alles, um Honecker von seiner China-Visite abzuhalten, die 1986 dennoch ohne Moskauer Absegnung stattfand. Das Misstrauen Gorbatschows, die DDR könne um die UdSSR herum ihre Politik mit Bonn machen, wog zeitweilig mehr als jede unserer Bekundungen, ohne Schwankungen an der Seite der Sowjetunion zu stehen. Es hat in der DDR-Führung niemals Anzeichen dafür gegeben, hinter dem Rücken der Sowjetunion die »deutsche Karte« zu spielen. Dennoch hat Gorbatschow uns gerade dies unterstellt.
Im Jahr 1983, im Zusammenhang mit dem Beschluss des Deutschen Bundestages - der berühmte Nato-Doppelbeschluss -, auf dem Territorium der BRD neue amerikanische Raketen zu stationieren, rief die DDR zu einer »Koalition der Vernunft« auf. Wir wollten der drohenden neuen Eiszeit Vernunft entgegensetzen und jede Zuspitzung vermeiden. Am 25. November 1983 nannte Honecker vor dem Zentralkomitee der SED Raketen auf deutschem Boden »Teufelszeug«. Es sei besser, »zehnmal zu verhandeln, als einmal zu schießen«. Er forderte »Schadensbegrenzung« und den Dialog mit allen, die gegen die Raketenstationierung waren.
Daraufhin las man am 27. Juli 1984 in der »Prawda« einen Artikel mit der Überschrift »Im Schatten der amerikanischen Raketen«, der scharfe Attacken auf die Politik der BRD enthielt. Bundeskanzler Kohl meinte, der Artikel sei Auftakt zu einer Anti-BRD-Kampagne. Die »Washington Post« vom 28. Juli 1984 hingegen traf den Kern, als sie schrieb: »Obwohl der Artikel als scharfe Kritik an der Regierung Kohl kaschiert ist, haben Diplomaten hier eine klare Missbilligung der ostdeutschen Bemühungen entdeckt, in einer Zeit anhaltender Ost-West-Spannungen die Entspannung zwischen beiden deutschen Staaten zu fördern … Einige Analytiker gehen davon aus, dass die verbesserten Beziehungen Ostdeutschlands zu Bonn wegen der Auswirkungen auf andere Staaten des Sowjetblocks echte Besorgnis in Moskau hervorrufen.« Daraufhin veröffentlichte die Gorbatschow-Gruppe im KPdSU-Politbüro einen zweiten, noch schärferen Artikel in der »Prawda«, der offene Angriffe auf die DDR-Politik enthielt und deshalb in unseren Medien - wie sonst üblich - nicht nachgedruckt wurde. Es kam zu einer Krise in den Beziehungen beider Parteiführungen, wie ich sie bis dahin noch nie erlebt hatte.
Honeckers Probleme mit der KPdSU
Auf Initiative Honeckers kam es zu einer Geheimberatung in Moskau, um die Meinungsverschiedenheiten beizulegen. Honecker hatte sich von Gorbatschow, der unter Generalsekretär Tschernenko schon damals im Kreml die Fäden spann, Unterstützung erhofft. Doch der an die Spitze strebende Gorbatschow holte zum großen Schlag gegen Honecker aus. Mit fragwürdigen Zitaten aus Springers »Bild« versuchte er nachzuweisen, dass die DDR gegen die gemeinsam festgelegte Bündnispolitik verstoße. ZK-Sekretär Gorbatschow setzte durch, dass Honecker seinen geplanten Staatsbesuch in der BRD nun zum bereits dritten Mal absagen musste.
Das Verhalten Gorbatschows in dieser Angelegenheit führte zu einem innerlichen Bruch, den Honecker auch nach dem Amtsantritt Gorbatschows nicht mehr überwinden konnte. Als der SED-Generalsekretär 1987 nach Bonn fuhr, hatte er Gorbatschow einfach nicht mehr gefragt. Das verzieh ihm dieser nie. Von jenem Zeitpunkt an begann Gorbatschow seinerseits, hinter dem Rücken der DDR einen eigenen, unabgestimmten Kurs gegenüber der Bundesrepublik - bis hin zu jenem 21. November 1989, als er seinen Beauftragten Nikolai Portugalow zu Gesprächen nach Bonn schickte, um in Erfahrung zu bringen, welchen Preis die Bundesrepublik für die Zustimmung der Sowjetunion zur deutschen Einheit zu zahlen bereit war. Zudem passierte etwas bis dahin Unglaubliches: Moskau schlug Bundeskanzler Kohl vor, sich nicht - wie vereinbart - mit mir als Staatsratsvorsitzendem zu treffen. Krenz, so die Begründung, werde den SED-Sonderparteitag nicht überstehen. Das Entlarvende daran war, dass die SED-Führung zu diesem Zeitpunkt einen Sonderparteitag noch gar nicht einberufen hatte.
Gescheiterte Reformpolitik
Gorbatschow verlor, nicht zuletzt wegen der fehlenden ökonomischen Grundlagen für seine Perestroika-Vision, den Rückhalt in der Bevölkerung und den Boden unter den Füßen. Er rettete sich zunehmend in ideologische Interpretation seiner Politik, in tatsachenblinde Apologetik bis hin zu Täuschungen. Er passte sich immer wieder dem machtpolitisch Opportunen an. An die Stelle realer Analyse setzte er »Neues Denken«, obwohl die Nato zu keinem Zeitpunkt bereit war, in den Kategorien der Entspannung neu zu denken. Diffuse »allgemein-menschliche Werte« bekamen einen höheren Stellenwert als die Werte und Ideale des Sozialismus. Er umgab sich mit fragwürdigen Leuten wie Alexander N. Jakowlew und Eduard A. Schewardnadse, für die Ideenverrat längst politisches Überlebenskalkül geworden war. So verlor sich der Geist des Aufbruchs in Richtung sozialistischer Erneuerung, den einst auch viele in der DDR an Gorbatschow schätzten.
Inzwischen soll Gorbatschow in einer Rede an der amerikanischen Universität in Ankara im Jahre 1999 gesagt haben: »Mein Lebensziel war die Zerschlagung des Kommunismus … Am meisten konnte ich dafür in den höchsten Funktionen tun. Ich musste die gesamte Führung der UdSSR entfernen. Ich musste auch die Führung in den sozialistischen Staaten beseitigen.« Da ich diese Aussage für unglaublich hielt, fragte ich schriftlich bei ihm an, ob das Zitat korrekt sei. Eine Antwort erhielt ich nicht. Da gilt wohl die alte Weisheit: Keine Antwort ist auch eine Antwort. Der sowjetische Deutschlandpolitiker Walentin Falin hat bisher am klarsten formuliert, was Gorbatschow der DDR angetan hat: Gorbatschow habe die DDR für ein Butterbrot weggegeben. Seine Absprache mit Kohl sei »eine Variante des Münchner Abkommens« gewesen, schrieb Falin 2009 in dem Magazin »Der Spiegel«. »Wir haben über den Kopf der DDR alles ausgehandelt, wir haben dieses Land verraten.«
Ich schreibe über all das nicht, um die Verantwortung der DDR-Führung unter Honecker, der ich angehörte, für das Ende der DDR zu verkleinern. Bei der Auseinandersetzung dürfen aber nicht jene Momente verloren gehen, die sich positiv auf die Entwicklung der DDR und ihr Verhältnis zur übrigen Welt ausgewirkt haben. Es geht auch um Gerechtigkeit in der Beurteilung der Lebensleistung Honeckers. Es muss dem Klischee widersprochen werden, mit Gorbatschow und Honecker hätten sich der stürmische Reformer und der notorische Dogmatiker gegenübergestanden. Tatsächlich verkehrten sich gar nicht so selten die Vorzeichen: Honecker zeigte weltpolitischen Weitblick, wo Gorbatschow ganz im Stil seiner Vorgänger die Souveränität und den Handlungsspielraum der DDR einschränkte und wichtige Entwicklungen zu verlangsamen oder verhindern suchte.
Ende der DDR und Verhältnis zu Russland
Ich verwechsele aber nicht das Verhalten der Gorbatschow-Führung mit den aufrichtigen Gefühlen der sowjetischen Menschen für die DDR. Ich will auch daran erinnern, dass die UdSSR nicht durch eine Volksbewegung, sondern von oben, von Fraktionen in der KPdSU zerschlagen wurde. Der KPdSU-Politbürokandidat Jelzin setzte sich an die Spitze der Zerstörer der Sowjetunion und übergab zudem seinen einstigen Genossen Honecker zur Aburteilung an die deutsche Justiz. Gewissenlos und widerlich!
Aber wir müssen nach vorne schauen. Heute wie damals gilt ein Leitsatz für vernünftige deutsche Politik: Ein gutes Verhältnis zu den Russen ist eine Schicksalsfrage für die Deutschen. Wer das nicht begreift, verletzt objektiv deutsche Interessen. Die Mehrheit der Bürger der DDR sind im Herbst 1989 nicht auf die Straße gegangen, damit deutsche Truppen wieder an Russlands Grenzen stehen und Bundeswehrsoldaten zu Auslandseinsätzen befohlen werden. Das Verhalten der bisherigen bundesdeutschen Regierung gegenüber Russland war für mich unerträglich: Deutsche Interessen wurden geopfert, um atlantische Treue zu beweisen. Erklärungen von Ministern der neuen Regierung lassen erkennen, dass sich daran nichts ändern soll. Das ist beängstigend. Für Deutschlands Zukunft wäre es ein Glück, würde sich die neue Regierung erinnern, was Bismarck als Vermächtnis hinterließ: »Nie gegen Russland!«
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