- Wirtschaft und Umwelt
- Atomausstieg
Der letzte Knopfdruck
Rückbau des Atomkraftwerkes Brokdorf soll bis 2039 abgeschlossen sein. Sorge wegen Zwischenlagerung am Standort bleibt
Wenn am 31. Dezember um 23:59 Uhr in der Leitwarte des Atomkraftwerkes Brokdorf per Knopfdruck der Ausstieg aus der Kernenergie veranlasst wird, dann hat der 1480 Megawatt Bruttoleistung liefernde Meiler laut Kraftwerksleiter Uwe Jorden mit 99,67 Prozent Arbeitsverfügbarkeit ein Rekordjahr in Sachen Effektivität hinter sich gebracht.
Wenige Tage vor dem Ende des AKW hat Schleswig-Holsteins Umweltminister Jan Phillip Albrecht (Grüne) dem Reaktor noch einen persönlichen Abschiedsbesuch abgestattet. Die Dankesworte des Ministers und das Lob an die rund 320-köpfige Belegschaft haben dem Betreiber Preussen Elektra so gut gefallen, dass er sie gleich mit auf seine Homepage übernommen hat.
Olga Hohmann versteht nicht, was Arbeit ist und versucht, es täglich herauszufinden. In ihrem ortlosen Office sitzend, erkundet sie ihre Biografie und amüsiert sich über die eigenen Neurosen. dasnd.de/hohmann
Mit abendlichen Lichtprojektionen auf der Reaktorkuppel hat sich Preussen Elektra diesen Monat mehrere Male weithin sichtbar bei der Dorfbevölkerung verabschiedet. Zurückgeblickt werden kann auf rund 35 Jahre Stromerzeugung seit Inbetriebnahme im Oktober 1986, kurz nach der Atomkatastrophe von Tschernobyl. In der Summe sind über all die Jahre 360 Milliarden Kilowattstunden zusammen gekommen. Der Druckwasserreaktor am Elbdeich hat sich dabei weitaus zuverlässiger erwiesen als die beiden Störfall-behafteten und deswegen bereits 2011 stillgelegten Meiler in Brunsbüttel und Krümmel.
Was der Betreiber in puncto Öffentlichkeitsarbeit und Transparenz über etliche Jahre ausgespart hat, das will er im Zuge des angestrebten und Ende 2017 beantragten Rückbaus nun besser machen. Die endgültige Genehmigung von der im Albrecht-Ministerium sitzenden Atomaufsicht wird wohl erst Anfang 2023 vorliegen. Ein 2019 gestarteter Bürgerdialog vor Ort kam Corona-bedingt erst im September ein zweites Mal zusammen und hat Anfang nächsten Jahres eine dritte Zusammenkunft ins Auge gefasst. Denn was den komplexen Rückbau-Prozess betrifft sowie die Zwischenlagerfunktion am Standort, gibt es genauso viele Fragen wie für einen laufenden AKW-Betrieb.
Skepsis und Sorgen führten bei einer wegen der Pandemie online erfolgten Bürger-Erörterung für den behördlichen Stilllegungsbescheid zu Rede- und Aufklärungsbedarf. Dabei waren insbesondere die Entsorgungsfragen von Interesse. Das betraf einerseits anfallenden Bauschutt-Müll und die damit verbundenen Zweifel an Freimessungsgrenzen sowie der Beteuerung aus dem Umweltministerium, das von dieser Art Abfall keinerlei Gefahr für die Bevölkerung ausgeht. Aber auch die Befürchtung der Ableitung radioaktiver Stoffe über den Wasserweg sorgte für Gesprächsbedarf.
Bis es schlussendlich einmal heißt, der letzte macht in Sachen Rückbau das Licht aus, wird es Preussen Elektra zufolge noch mindestens bis 2039 dauern. Ein erster Schritt im neuen Arbeitszyklus ist zunächst ein Personalabbau um 20 Prozent. Das Ausscheiden der Beschäftigten erfolgt über Vorruhestandsvereinbarungen. Zu den ersten Stilllegungsmaßnahmen gehört, dass bereits im nächsten Monat alle 193 Brennelemente aus dem Reaktorkern ins Lagerbecken verfrachtet werden.
Für Jochen Stay, Sprecher der überregionalen Anti-Atom-Organisation »ausgestrahlt«, ist die kritische inhaltliche Begleitung des stillgelegten Standorts Brokdorf weiterhin ein wichtiges Anliegen. Insbesondere die Zwischenlager-Frage bleibt in seinen Augen auch über den finalen Rückbautermin hinaus ein relevantes Thema. Bereits in der näheren Zukunft, laut Stay möglicherweise ab 2023, richtet die engagierte Anti-Atom-Bewegung allemal ihren Blick nach Brokdorf, weil dort die Einlagerung von sechs Castorbehältern mit hochradioaktivem Müll aus der britischen Plutoniumfabrik Sellafield ansteht. Dabei geht es um strahlende Abfälle aus Brennelementen deutscher Reaktoren, die bis 2005 nach Sellafield gebracht wurden. Einen genauen Termin seitens des zuständigen Bundesamtes für Sicherheit der nuklearen Entsorgung gibt es für den Transport derzeit nicht. Eine fortdauernde internationale Coronalage könnte den Zeitpunkt für solch ein Hochsicherheitsereignis durchaus noch beeinflussen.
Je länger es womöglich keine Erfolgsmeldung bei der Atommüll-Endlagersuche gibt, wird in der 1000-Einwohner-Gemeinde Brokdorf irgendwann auch die Angst kursieren, dass dem Zwischenlager auf dem AKW-Gelände ein Endlager-Schicksal drohen könnte. Ganz so weit denkt Kraftwerksleiter Uwe Jorden, der im März in Rente geht, aber noch nicht.
Auf der Zielgeraden hatte sich die Kunsthochschule Hamburg mit einem ganz besonderen Projekt bei ihm gemeldet. Unter dem Titel »Brokdorf bleibt...« haben sich Studierende dem Statuswechsel des AKW in den Off-Modus gestellt und Bilder, Skulpturen, Plakate und Postkarten angefertigt - Werke der Arbeiterkultur, die nun im Kraftwerk und im Dorf zu sehen sind. Dazu gehören auch Porträtfotos von Kraftwerksbeschäftigten, die nach Jordens Meinung ein besseres Image in der Öffentlichkeit verdient hätten.
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