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Ostern zwischen Orient und Okzident

nd-Leserreise exklusiv: Auf einer alten Balkanroute Bulgarien haut- und lebensnah neu erkunden

  • Michael Müller
  • Lesedauer: 4 Min.
Im Stadtpark von Samokow: Für die traditionellen Eierduelle etwas groß, dafür aber absolut knickfest
Im Stadtpark von Samokow: Für die traditionellen Eierduelle etwas groß, dafür aber absolut knickfest

Infos
Michael Müller führt seit vielen Jahren Studien- und Kulturreisegruppen durch die Länder Südosteuropas. Dort war er lange Auslandskorrespondent und im Übrigen bei »nd« seit 1972 Redakteur, Ressortleiter und Vize-Chefredakteur. Derzeit arbeitet er freiberuflich für »nd.Die Woche« und »nd.Commune«.

Leserreisen mit Michael Müller: Bulgarien exklusiv, 20. bis 27. April 2022 Menschen kennenlernen, Alltag und Geschichte zwischen Balkan- und Rilagebirge, Schwarzem Meer und Sofia sowie den drei alten Hauptstädten

Montenegro/Albanien exklusiv, 6. bis 17. Oktober 2022 Begegnungen und Entdeckungen, Faszination und Ergriffenheit im »Land der Schwarzen Berge« und »Land der Skipetaren«; Tagestour nach Ochrid und Kloster Sveti Naum (Nordmazedonien)

Buchung und Info-Material: Frank Diekert (nd-Leserreisen) Tel.: (030) 2978-1620 E-Mail: leserreisen@nd-online.de

Kinderträume ähneln sich überall in der Welt, besonders in ihren jeweiligen Kulturkreisen. So wünschen sich Kinder in Mittel- und Westeuropa mit leuchtenden Augen, dass jeden Tag Weihnachten sein möge. Die in Bulgarien, mehrheitlich christlich-orthodox geprägt, hätten hingegen gern möglichst oft Ostern. Es heißt in ihrer Sprache also nicht umsonst Welikden, sinngemäß: allergrößter Tag. Antonina ist die Tochter von Goran, ein kollegialer bulgarischer Bekannter von mir aus dem Städtchen Samokow am Rande des Rilagebirges. Und Nintsche, wie Antonina meist gerufen wird, verriet mir als sie sieben war, dass sie, wenn sie einmal groß ist, dafür sorgen will, dass Ostern zwei Wochen dauert.

Mir fiel das jüngst wieder ein, als ich mit dem Reiseprogramm der nächsten nd-Leserreise nach Bulgarien befasst war. In diese Zeit fällt nämlich 2022 das bulgarische Osterwochenende am 23. und 24. April. Das ist, weil nach orthodoxem Ritus begangen, diesmal (nur) eine Woche nach unserem mittel- und westeuropäischen Osterdatum. So gesehen verlängert sich Ostern für alle, die bei dieser Tour dabei sein werden, zwar nicht gleich auf zwei Wochen, aber zumindest verdoppelt es sich. Mit etwas Glück und Zeit könnten wir Antonina, die unlängst 13 wurde, in knapp vier Monaten zusammen mit ihrem Tatko in Samokow treffen. Und ihr gratulieren, dass ihre Reformidee für uns schon mal in einer Kurzfassung zutrifft.

Auf dieser nd-Leserreise werden wir so einiges an österlichen Volksbräuchen mitbekommen. Neben Fasten, Backen, Essen, Trinken, gut besuchten orthodoxen Kirchen, Klöstern und Gottesdiensten dreht sich dabei in Bulgarien das meiste ums Ei. Zwar mit vielen regionalen Varianten, aber weitgehend noch original balkanesisch (will heißen: noch unwesentlich von westlichen Importen wie Osterhase und Schokoladenei verdrängt). Versteckt und gesucht werden die meist in Zwiebelschalensud hart gekochten und gefärbten Ostereier übrigens nicht. Vielmehr schlägt man sie, sozusagen im Zweikampf, jeweils eins mit einer Hand haltend, gegeneinander. Wessen Ei dabei nicht einknickt, so der Ostermythos, der bleibe bis zum nächsten Osterfest mit Gesundheit, Kraft und Energie gesegnet, könne sein spezielles Glück selbst schmieden. Ein Boetz, also Sieger, im Eierduell, ist bei den viel millionenfachen österlichen Zusammenstößen im Land letztlich jeder. Früher wurden die Knickeier übrigens als Ernteglücksbringer im Acker vergraben, heute kommen sie bis zum nächsten Osterfest in eine Kühlschrankecke.

Und überall am Straßenrand trifft man noch alte Bekannte ...
Und überall am Straßenrand trifft man noch alte Bekannte ...

Bulgarien im Frühling kann ein wunderbares Land für alle fünf Sinne sein: klare Sicht von den Ufern des Schwarzen Meeres bis in seine hohen Gebirge; wundersame Düfte von Blumen, Gräsern und ersten Obstblüten; Summen und Säuseln von Bienen und dem mittags bereits sommerlich wehenden Wind; Wein vom letzten Herbst, dazu Nüsse und getrocknete Aprikosen; schließlich ein Gefühl, dass die Bulgaren bei der Erschaffung der Welt von der Muße etwas mehr als andere abbekommen haben müssen.

Das wollen und werden wir um die Osterzeit 2022 natürlich genießen. Doch wir dürften nicht umhinkommen zu erkennen, ja, wir werden täglich darauf gestoßen, dass unsere fünf Sinne allein für sich genommen leider ein trügerisches Bild vermitteln. Bulgarien, zu realsozialistischen RGW-Zeiten durchaus ein Land, in dem es zu leben sich lohnte, wurde zu EU-Zeiten unversehens ein Land, dem die Menschen weglaufen. Zählte es 1990 nach jahrzehntelangem konstanten Zuwachs rund 9 Millionen Einwohner, sind es aktuell ganze 6,9 Millionen; ins Ausland gehen vor allem junge Leute bis 35. Dörfer sterben reihenweise, Städte beginnen an den Rändern zu zerfallen und zu veröden. Viel Land liegt brach, die Industrieproduktion verflacht, Importüberschuss drückt auf den Staatsetat.

Ostern zwischen Orient und Okzident

Im Westen - und auch von der Opposition im Land selbst - wird daran fast ausschließlich Korruption und Vetternwirtschaft schuld gegeben. Kaum benannt werden indes EU-Zwänge, die dem Land, inzwischen faktisch ein Entwicklungsland, die Luft zum Atmen nehmen und jedwede EU-Dotation in einem für Bulgarien realen Minus verschwinden lassen. Als Plus steht das meist auf Konten ausländischer Banken und Investoren. Rein rechnerisch hatte das Land seit 1990 etwa alle zwei Jahre eine neue Regierung. Von, so deren Selbstbezeichnungen, sozialistisch bis patriotisch. Am Abstieg änderte, ob gewollt oder ungewollt, keine etwas. Unter den bislang 16 Premierministern war einmal sogar Negowo Wisotschestwo Simeon von Sachsen-Coburg und Gotha, bis 1946 letzter, noch minderjähriger bulgarischer Zar. Seit Anfang Dezember dieses Jahres heißt der Premier Kiril Petkow (41). Er lebte, seit er 13 war, in den USA, machte dort den Master der Betriebswirtschaft. In Bulgarien wurde er von einem der beliebtesten Sänger und Entertainer gepusht.

Petkows Partei »Wir setzen den Wandel fort« gewann die Wahl sensationell. Bleibt die Frage, welcher Wandel gemeint ist. Wenn es der seit 1990 einzig spürbare sein sollte, kann es eigentlich nur noch schlimmer werden. Wir werden bei unserer Tour im Frühjahr 2022 im Land fragen können, was die Menschen von dieser Parole des Herbstes 2021 inzwischen halten.

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