- Kultur
- »Heimliche Reisen« von Helga Schütz
»Ich bin’s nicht«
Eine Autorin mit Eigensinn: Das Buch »Heimliche Reisen« versammelt literarische Erinnerungen von Helga Schütz
Zur Wendezeit, im Frühjahr 1990, »immer noch hochgestimmt in einer Art Gewinnerlaune«, trifft Helga Schütz in der Berliner S-Bahn einen Jungen. Er ist um die zehn Jahre alt und, ohne dass sie ihn gefragt hätte, erzählt er ihr, dass er seine Mutter besuchen wolle. Sie arbeite auf dem S-Bahnhof Alexanderplatz als Zugabfertigerin. Eine Geschichte, so vermutet Schütz, die er sich ausgedacht hat, wahrscheinlich kommt er aus dem Kinderheim, das sich ganz in der Nähe ihres Hauses in Babelsberg befindet. Sie überlegt kurz, ob sie die Polizei rufen soll, die den Jungen zurück ins Heim bringen würde. Aber sie entscheidet sich dagegen.
»Heimliche Reisen« nennt die Potsdamer Autorin ihr neues Buch. Vieles deutet darauf hin, dass es sich bei der Ich-Erzählerin um die Schriftstellerin selbst handelt. Aber sie stellt den Erinnerungstexten des Bandes eine kluge Einschränkung voran: »Ich bin’s nicht, wir alle sind in den Räumen des Textes erfundene Figuren«. Denn die Erinnerung an das eigene Ich und die eigenen Erlebnisse sind ja auch nur eine Geschichte. Eine Geschichte, die im späteren Bewusstsein mal chronologisch, mal assoziativ verläuft. Da ist die Kindheit in Schlesien, erst abseits, in einer kleinen Siedlung, dann in einer größeren Ortschaft.
1944 geht es auf die Flucht in Richtung Westen, ins Dresden der kommenden Bombennächte und der folgenden sowjetischen Besatzung. Hier geht Helga Schütz zur Schule. Eine Kindheit, geprägt von Frauen, die übrig geblieben waren - der Vater starb in Stalingrad. Es sind Frauen, die durchhielten und die Last der Familie zu tragen hatten. Die Großmutter, die nicht lesen und schreiben kann, will mit ihrer Tüchtigkeit und Sauberkeit, mit der sie die strahlend weiße Aussteuerwäsche der Enkelin aufhängt, zeigen, dass die geflüchteten Familienmitglieder keine »Polacken« sind. Später dann macht Schütz eine Gärtnerlehre, studiert an der Filmhochschule in Babelsberg und beginnt Drehbücher, Erzählungen und Romane zu schreiben.
Immer wieder kommt sie auf ihrer literarischen Lebensreise auf das Haus zurück, das sie Anfang 1962 zusammen mit ihrem damaligen Lebenspartner Egon Günther entdeckte. Ein leer stehendes Haus direkt am See, aber auch direkt an der Grenze zwischen Potsdam und Westberlin. Es war in den 1920er Jahren von einem Berliner Zahnarzt als Sommerhaus erbaut worden. Deshalb hatte es auch keine richtige Heizung. Schütz lässt eine einbauen, was nicht einfach ist zu jener Zeit im real existierenden Sozialismus. Aber sie hat Glück. Nur im Garten zieht sich erst ein Zaun quer über den Rasen, später dann die Mauer. Am anderen Seeufer, immer in Sichtweite: Westberlin. Als ihre Beziehung zerbricht, zieht Schütz nach Babelsberg. Nach der Wende geht sie immer wieder an dem Haus vorbei. Und wird eines Tages von den neuen Besitzern, Nachkommen des Bauherrn des Hauses, angerufen und zum Kaffee eingeladen. Sie hatten erfahren, wer lange Jahre in dem Haus am See gewohnt hatte.
Helga Schütz erzählt in einer unsentimentalen Schreibweise. Eine Schreibweise, die eine für den Leser fruchtbare Distanz zum Erzählten aufrechterhält. Sie ermöglicht ihm, das Gelesene selbst einzuordnen und zu bewerten. Gleichzeitig entsteht durch diese Distanz, mit der sie aus ihrem Leben erzählt, eine ganze eigene Poesie.
In der Erinnerung ist Egon Günther der »Gefährte«, der mit ihr in das Haus am See einzieht. Es sei wohl Liebe gewesen, schreibt Schütz im Nachhinein; eine Liebe, die langsam, Mitte der 70er Jahre dann ganz erlischt. Auch sonst erzählt sie von den Härten ihres Lebens lakonisch: »Ich hatte den Bombenangriff auf Dresden in einem Haus in der Altenzeller Straße in einem verschütteten Keller auf dem Schoß eines toten Soldaten überlebt. Damals war ich sieben Jahre alt. C’est la vie.«
Für die Traurigkeit des Todes ihrer schwerbehinderten Tochter, die mit zwölf Jahren starb, braucht sie nur wenige Worte. Aber es sind diese wenigen Worte, die die ganze Dimension dieses Todes erahnen lassen und die noch lange im Leser nachwirken.
Wer heimlich reist oder reisen muss, dem darf man Eigensinn unterstellen. Helga Schütz ließ sich diesen Eigensinn nie nehmen. Das begann mit ihrer Abschlussarbeit an der Filmhochschule in Babelsberg, für die sie zunächst kaltgestellt wurde. Und es ging weiter mit von ihr verfassten Drehbüchern für angefeindete oder in der DDR gar nie gezeigte Filme wie Egon Günthers obrigkeitskritische Komödie »
«. »Ich darf nicht feige sein«, schreibt sie am Ende der zweiten Geschichte. Das war Helga Schütz nie. Und das konnte auch die Stasi nicht ändern, die 1976 mit Einschüchterungsversuchen verhindern wollte, dass sie die Petition gegen die Ausbürgerung Wolf Biermanns unterschrieb.
Helga Schütz: Heimliche Reisen. Aufbau, 377 S., geb., 24 €.
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