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Der Verlust der Zukunft
Das große Unbehagen in Kultur und Gesellschaft: Radiohead brachten es schon vor 20 Jahren auf den Punkt
Es scheint für unsere Gegenwart keinen passenden popkulturellen Ausdruck mehr zu geben. Natürlich gibt es Lieder über die Pandemie wie »Living in A Ghosttown« von den Rolling Stones. Oder das Flirten mit Depression und Doomer-Stimmung wie bei Billie Eilish. Aber trifft etwas davon die Leere, die anscheinend nicht enden wollende Wiederkehr des Immergleichen, das Unbehagen der unheimlichen Welt? Die Ausdruckslosigkeit ist selbst Teil dieses Zusammenhangs. Auch das kann man popmusikalisch auf den Punkt bringen. Der Soundtrack unserer Zeit wurde bereits vor 20 Jahren von der englischen Band Radiohead aufgenommen.
Olga Hohmann versteht nicht, was Arbeit ist und versucht, es täglich herauszufinden. In ihrem ortlosen Office sitzend, erkundet sie ihre Biografie und amüsiert sich über die eigenen Neurosen. dasnd.de/hohmann
Zur Jahrtausendwende erschienen im Abstand von gerade einmal acht Monaten ihre zwei Alben »Kid A« (2000) und »Amnesiac« (2001). Wie wenige andere Werke der Popkultur verhandelten beide Platten den Verlust der Zukunft: Die Verselbstständigung einer zunehmend hoch technologisierten Individualgesellschaft gegenüber ihren Individuen. Im November wurden beide Alben zusammen unter dem Titel »Kid A Mnesia« neu aufgelegt. Dazu gab es noch eine Handvoll neuer Songs, Neuarrangements bekannter Titel, sphärische Soundcollagen und eine Art interaktive Ausstellung, in der Artwork und Songtexte zum virtuellen Leben erweckt werden.
Lange Zeit galt »Kid A« als der eigentliche Meilenstein. Das Album erschien ohne jede Vorankündigung und markierte einen harten Bruch der Band mit ihrem Rockimage. Ende der 90er Jahre war der Alternative Rock von Radiohead als Rettung der Rockmusik gefeiert worden. Nach einer erfolgreichen Welttournee verschwanden sie von der Bildfläche und kehrten dann mit »Kid A« zurück. Es war ein verstörendes Album, denn es hatte mit Rock kaum noch etwas zu tun. Es waren kaputte Songs, elektronisch verfremdet, dem Schema von Strophen und Refrains enthoben. Sie waren experimentell und trotzig. Statt der Sehnsucht der Fans nach authentischen Gefühlen und dem Versprechen von Befreiung Rechnung zu tragen, war »Kid A« ein abstraktes Album.
Radiohead präsentierten verschiedene Dimensionen eines Entfremdungsbegriffs: Es ging um Verblendung (»You’re living in a fantasy world«), Selbstentfremdung (»That there, that’s not me«) und neoliberale Entsolidarisierung (»The big fish eat the little ones. Not my problem, give me some«). Und es ging um Manipulation (»They fed us on little white lies«). Diese »little white lies« (kleine Notlügen) türmten sich auf dem Cover von »Kid A« zu riesigen Eisbergen auf. Der Horizont einer dystopischen Landschaft.
Solche Entfremdungskritik war für die Popkultur am Ende des 20. Jahrhunderts bezeichnend. Man denke nur an Filme wie »They Live« (1988) von John Carpenter oder »Matrix« (1999) von den Wachowski-Geschwistern. Die Kehrseite dieser Gesellschaftskritik war eine radikale Innerlichkeit. Als gebe es ein eigentlich unversehrtes Subjekt, das allerdings durch Manipulation zugerichtete würde.
In den späten 70ern hatte Punk die Gesellschaft als System der Ausbeutung und Lüge kritisiert. Ende der 80er hatte sich die Kritik dorthin verschoben, wo vermeintlich noch etwas zu holen war, von einem gesellschaftlichen Außen in das Subjekt hinein. Grunge war die radikalste Form: Nirvana wendeten die Wut von »Fuck the system« in ein depressives »I hate myself and I want to die«. Auch dieser Gestus war geprägt von der einen Vorstellung, man könnte jenseits des Verblendungszusammenhangs noch authentisch sein, und sei es nur in der Form, dass man daran zerbricht.
Radiohead standen in dieser Entwicklungslinie von Punk zu Grunge. Authentisch war für sie allerdings die Kälte und Monotonie der elektronischen Musik, die die 90er Jahre dominierte und die hinter jeder Regung von Aggression die Depression erspürte. Und so klang auch die Musik von »Kid A«, auch wenn sie inhaltlich noch auf dem Boden des Rock standen, indem sie daran festhielten, dass in der Innerlichkeit ein Bestehen gegen die falsche Welt möglich wäre, indem man deren Lügen entlarvt und echt bleibt, weil man daran leidet.
Und dann erschien das Album »Amnesiac«, das oft nur als Anhang oder Nachtrag von überschüssigem Studiomaterial begriffen wurde. Tatsächlich gehen Radiohead darauf inhaltlich den konsequenten Schritt: Vor der feindlichen Welt gibt es keinen Rückzug ins Ich, keine Instanz des inneren Widerstands. »Amnesiac« verbindet das depressive Subjekt mit der Gesellschaft: Die Innerlichkeit ist leer. Schon der Albumtitel verweist darauf, auf die Amnesie, das Vergessen einer Vergangenheit, ohne die es auch keine Zukunft geben kann. »There is no future left at all. I used to think«, heißt es in der Single-Auskopplung »I Might Be Wrong«.
»Amnesiac« hat damit auch das Halbfertige seines Vorgängers verloren. Das Album ist perfekt durchkomponiert, nichts an den Arrangements aus Klavier, Streichern oder Gitarre, Rauschen, Feedbackloops und der kaum mehr menschlichen Stimme von Thom Yorke scheint zufällig. Ebenso wenig die Dramaturgie. Zu Beginn des Albums heißt es noch, man sei zusammengepfercht wie die sprichwörtlichen »Sardinen in der Blechdose«. Aus solch einer Art Gefangenschaft ließe sich ausbrechen, doch Yorke singt davon, dass man mit diesem Bild an der falschen Stelle nach Befreiung suche. Denn die Gesellschaft ist kein bloßes Außen mehr und das Innere kein Rückzugsort, was der monumentale »Pyramid Song« verkündet.
Durch die Digitalisierung, die Allgegenwart elektronischer Medien ist alles Vermittlung: eine verwaltete Welt. »It’s all over the globe this day«, singen Radiohead. Und zu dieser Welt gehören wir dazu: Wir sind selbst das Medium geworden. Das universelle Äquivalent (»we are the dollars and cents«) bzw. die Drehtüren, durch die alles hindurchgeht (»we are revolving doors«).
Das Unbehagen, dass dieser globale Zusammenhang einer von Herrschaft ist, tendiert zu regressiven Impulsen, etwa der Fantasie einer apokalyptischen Vernichtung. In »You and Whose Army?« lassen Radiohead die apokalyptischen Reiter gleich selbst sprechen, die eine dem Untergang geweihte Ordnung herausfordern. Die Projektion eines Weltuntergangs entspringt der eigenen Ohnmacht, in der jede Aggression Selbstzerstörung ist und darum Selbstzerstörung die einzig mögliche Aggression. Wie es der seltsam entrückte letzte Song des Albums »Life in A Glass House« andeutet, kann, wer im Glashaus sitzt, eben nicht mit Steinen werfen.
Man darf Popkultur nicht überbewerten. Sie bringt nichts von all dem auf den Begriff. Sie ist nur ein Ausdruck für jenes Verharren in der Reglosigkeit, im Abwarten, wie lange die Verdrängung anhält: ob man wahnsinnig wird, ob autoritäre Herrschaft, Pandemie, Kriege oder die Klimakatastrophe dem Ganzen ein Ende setzen – oder eben nicht. Denn die Zukunfts- und Hoffnungslosigkeit ist verhängnisvoll. Sie ist allerorten spürbar und daher kaum auszudrücken. Diesem depressiven Zustand haben Radiohead mit »Kid A Mnesia« einen Ausdruck gegeben.
Radiohead: »Kid A Mnesia« (Xl/Beggars Group/ Indigo)
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