Katerstimmung in Großbritannien

Ein Jahr nach dem endgültigen Vollzug des EU-Austritts ist die Mehrheit mit der Entwicklung unzufrieden

  • Sascha Zastiral, London
  • Lesedauer: 5 Min.

Für viele Briten war es ein Schock: Vor Tankstellen im gesamten Land bildeten sich im Herbst lange Schlangen. Hunderte mussten schließen, weil ihnen der Sprit ausgegangen war. Vereinzelt kam es sogar zu Schlägereien zwischen genervten Autofahrern. Besonders großes Pech hatte Nigel Farage: Der rechtsextreme Brexit-Vorkämpfer berichtete auf Twitter - und das ohne erkennbare Ironie -, er habe an sieben Tankstellen erfolglos versucht, Benzin zu bekommen. Als er sich an der achten angestellt habe, sei ihm ein Lieferwagen hinten ins Auto gefahren.

Andere Brexit-Unterstützer machten die Verantwortlichen für die Misere schnell aus: die Medien des Landes. Diese hätten den arglosen Briten mit völlig überzogenen Berichten über Engpässe Panik eingejagt und damit künstlich die Nachfrage gepuscht, um hinterher den Brexit anklagen zu können.

Tatsächlich hatten die Ereignisse im Herbst eine Menge mit dem Brexit zu tun: Denn der britische EU-Austritt hat den europaweiten Lkw-Fahrermangel in Großbritannien noch einmal verstärkt. Seit dem EU-Referendum 2016 haben geschätzt 20 000 Lkw-Fahrer aus EU-Staaten das Land verlassen, viele von ihnen während der Covid-Pandemie. Bis zum Sommer 2021 waren geschätzt 100 000 Lkw-Fahrerstellen nicht besetzt. Wegen der strikten, durch den Brexit bedingten Einwanderungsbeschränkungen seit Jahresbeginn 2021 waren viele Spediteure nicht mehr in der Lage, die offenen Stellen zu besetzen.

Dass viele der lang vorhergesagten Brexit-Folgen in diesem Jahr erstmals zu beobachten waren, liegt daran, dass mit dem Jahreswechsel 2020/2021 auch die Brexit-Übergangsfrist endete, während der vieles beim Alten geblieben war. Formell hatte Großbritannien die EU ja bereits am 1. Februar 2020 verlassen. Mit dem Auslaufen der Übergangsfrist kam dann auch für die letzten verbliebenen Vorzüge der EU-Mitgliedschaft das Ende.

Die Auswirkungen ließen nicht lange auf sich warten: Bereits im Januar 2021 brachen die britischen Güterexporte in die EU um 45 Prozent ein. Selbst im August hinkte deren Volumen noch immer um 15 Prozent dem früheren Stand hinterher. Der Anteil der britischen Exporte in den Rest der Welt lag dagegen im August nur um sieben Prozent niedriger als zwei Jahre zuvor. Handelsexperten verweisen darauf, dass es schwierig ist, Brexit-bedingte Einbrüche durch den Brexit klar von den Rückgängen zu trennen, die im Zusammenhang mit der Covid-Pandemie entstanden sind. Im Vergleich mit anderen Industrienationen wird jedoch ersichtlich, dass Großbritannien in vielen Bereichen immer mehr hinterherhinkt.

Auch die Behörde für Budgetverantwortung des Finanzministeriums geht mittlerweile davon aus, dass der Brexit die Produktivität im Land dermaßen stark verringern wird, dass das Bruttoinlandsprodukt auf Dauer um vier Prozent geringer ausfallen wird, als es ohne den EU-Austritt der Fall gewesen wäre. Oder anders gesagt: Der Brexit dürfte sich langfristig doppelt so stark auf die britische Wirtschaft auswirken wie Covid. »Der Brexit ist seinem Wesen nach ein langfristiges Problem«, sagte Jonathan Portes, Ökonom am King’s College in London, dem »Guardian«. »So wie es Jahrzehnte gedauert hat, bis Großbritannien die vollen Vorzüge seiner EU-Mitgliedschaft gesehen hat, werden wir noch lange nach meiner Pensionierung über die wirtschaftlichen Auswirkungen des Brexit sprechen.«

Schuld daran trägt auch der harte Brexit, den Premier Boris Johnson dem Land aufgedrängt hat. Denn unter seiner Führung hat das Land gleichzeitig auch den Europäischen Binnenmarkt und die Zollunion verlassen. Mit einer Ausnahme: Nordirland. Um eine harte Grenze der britisch kontrollierten Region zur Republik Irland zu vermeiden, verblieb Nordirland gemäß dem Brexit-Abkommen im EU-Binnenmarkt für Waren. Auch der EU-Zollkodex wird dort weiter angewandt. Die Folge: Während die Exporte aus England, Schottland und Wales in die Republik Irland 2021 stark eingebrochen sind, stieg das Handelsvolumen Nordirlands mit dem Nachbarn im Süden rasant an. Und das vor allem bei landwirtschaftlichen Erzeugnissen und Lebensmittelexporten, die in Großbritannien ansonsten unter dem Brexit stark leiden. Die Barrieren, die durch den Brexit entstanden sind, scheinen dem nordirischen Wirtschaftsboom keinen großen Abbruch zu tun. Dieser Umstand sorgt in London für merkliches Unbehagen. Daher fordert die Johnson-Regierung seit Monaten von der EU, die Bedingungen des Nordirland-Protokolls neu zu verhandeln. Und schon seit Wochen droht die britische Regierung damit, das Protokoll ganz auszusetzen. Sollte es dazu kommen, könnte die EU das Handelsabkommen mit London ganz aufkündigen.

Dass Brexit-Minister David Frost Ende Dezember das Handtuch warf, ist bezeichnend, obwohl Frost seinen Job vor allem aus Protest gegen die neuen Covid-Beschränkungen der Regierung hingeworfen haben will.

Die vom Brexit herrührenden Probleme führen in der britischen Öffentlichkeit zu wachsendem Unbehagen. So gaben in einer aktuellen repräsentativen Umfrage mehr als sechs von zehn Befragten an, dass der Brexit schlecht laufe oder zumindest schlechter als erwartet. Das Erstaunliche: 42 Prozent der Befragten, die 2016 für den EU-Austritt stimmten, haben demnach derzeit ebenfalls ein negatives Bild der Lage. Dazu dürfte auch Boris Johnson beigetragen haben. Der Premier hangelt sich von einem Skandal zum nächsten. Besonders schwer wiegen Enthüllungen, wonach es in Johnsons Amtssitz in der Downing Street während der Lockdowns 2020 regelwidrige Zusammenkünfte und sogar Partys gab. In Umfragen liegt die oppositionelle Labour-Partei weit vorne. Die Enthüllungen haben Johnson auch parteiintern stark beschädigt, sodass sich die Torys dazu durchringen könnten, ihr Glück unter neuer Führung zu versuchen.

In Sachen Brexit kommt auf die Briten noch einiges zu. Zum 1. Januar endete eine Galgenfrist bei den Zollkontrollen, und ab dem kommenden Sommer wird London aufgeschobene Kontrollen beim Import von Lebensmitteln einführen müssen. Es drohen, mal wieder, lange Verzögerungen an den Grenzen. Es bleibt also eine gute Idee, vorsorglich zu tanken.

Werde Mitglied der nd.Genossenschaft!
Seit dem 1. Januar 2022 wird das »nd« als unabhängige linke Zeitung herausgeben, welche der Belegschaft und den Leser*innen gehört. Sei dabei und unterstütze als Genossenschaftsmitglied Medienvielfalt und sichtbare linke Positionen. Jetzt die Beitrittserklärung ausfüllen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.