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Russland greift in Kasachstan ein

Das von Moskau dominierte Militärbündnis OVKS entsendet zum ersten Mal Truppen in einen Nachbarstaat

  • Birger Schütz
  • Lesedauer: 4 Min.

Noch am Dienstag waren sich viele Experten einig: Die Lage in Kasachstan sei angesichts der landesweiten Proteste zwar brandgefährlich. Zu einem brutalen Durchgreifen wäre die Führung des zentralasiatischen Landes aber nicht fähig, ein Blutbad unwahrscheinlich.

Dann kam die Nacht auf den Mittwoch - und mit ihr die Gewalt. In der südostkasachischen Wirtschaftsmetropole Almaty eroberten Einsatzkräfte zunächst den von Demonstranten besetzten Flugplatz zurück, dann berichteten Augenzeugen von Maschinengewehrsalven im Zentrum der Stadt, es soll zu Plünderungen gekommen sein. Vor der Stadtverwaltung lieferten sich Demonstranten und Hunderte Sicherheitskräfte schwere Zusammenstöße, bei denen es auch zu Schusswechseln kam. »Dutzende« Demonstranten seien beim versuchten Sturm von Verwaltungsgebäuden getötet worden, meldete die Polizei. 18 Beamte sollen dabei getötet und 353 verletzt worden sein, so die staatliche Nachrichtenagentur Chabar. Drei Polizisten seien bei den Ausschreitung enthauptet worden. Landesweit gebe es 1000 Verletzte, 400 Menschen mussten in Krankenhäuser eingeliefert werden, verlauteten kasachische Agenturen am Donnerstagmittag (Ortszeit). Die Angaben lassen sich nicht überprüfen, das Internet ist in Kasachstan nach wie vor abgeschaltet, Webseiten unabhängiger Medien sind nicht erreichbar.

Der kasachische Präsident Kassym-Schomart Tokajew hatte noch am Dienstagabend den Ausnahmezustand auf das gesamte Land ausgeweitet, eine »Antiterroroperation« verkündet und die Streitkräfte in Alarmbereitschaft versetzt. Außerdem kündigte er die Bildung eines Untersuchungskommission an. Diese soll Gründe und Anstifter für die Unruhen benennen, welche am vergangenen Wochenende vom westkasachischen Schangaösen aus das gesamte Land ergriffen hatten.

Als entscheidend erwies sich aber Tokajews Einstufung der Unruhen als »Angriff terroristischer und extremistischer Banden aus dem Ausland«. Zwar blieb der Präsident Beweise für seine Behauptung am frühen Donnerstagmorgen schuldig. Dennoch lieferte sie ihm den Vorwand, um die von Russland dominierte Organisation des Vertrages über kollektive Sicherheit (OVKS) - in der Kasachstan Mitglied ist - um Hilfe anzurufen. Das Militärbündnis, zu dem auch Belarus, Tadschikistan, Armenien und Kirgistan gehören, solle »Kasachstan bei der Überwindung dieser terroristischen Bedrohung helfen«.

Nur wenige Stunden später entsprach das Bündnis Tokajews Gesuch. Der armenische Regierungschef Nikol Paschinjan, derzeitiger Vorsitzende des kollektiven OVKS-Sicherheitsrates, kündigte auf Facebook an, die Organisation werde »kollektive Friedenstruppen für einen begrenzten Zeitraum nach Kasachstan entsenden, um die Situation zu stabilisieren und zu normalisieren«. Die Größe des Kontingents blieb unklar, Einzelheiten wurden zunächst nicht genannt. Berichten des US-amerikanischen Senders Radio Swoboda zufolge soll Tadschikistan 200 Soldaten entsenden. Armenien beteilige sich angeblich mit 70 Mann. Wie viele Soldaten Kirgistan schickt, sei noch unbekannt. Vor dem kirgisischen Parlament wurde gegen eine Beteiligung an der Mission demonstriert.

Russland begann umgehend mit der Verlegung von Luftlandetruppen nach Almaty, ins Epizentrum der kasachischen Proteste. Videos des Verteidigungsministeriums zeigen Fallschirmjäger vor dem Abflug in Trupppertransportflugzeugen. Unbestätigten Meldungen zufolge soll es sich um eine Vorhut von zunächst etwa 300 Soldaten handeln. Das russische Internetmedium Baza berichtete, ein Fliegerregiment in Orenburg an der kasachischen Grenze sei in Alarmbereitschaft versetzt worden. Das OVKS-Sekretariat meldete am Donnerstagmittag, die ersten Teile des russischen Kontingents der so genannten Friedenstruppen seien in Almaty bereits im Einsatz. Auch Truppen aus Belarus und Armenien seien vor Ort, schrieb die Medienplattform Mediazona

Es ist das erste Mal, dass das 1992 gegründete Militärbündnis Truppen zur Unterstützung eines Verbündeten entsendet. Formal begründete Paschinjan den Einsatz mit Artikel 4 der OVKS-Charta. Dieser sieht - wie der Artikel 5 des Nordatlantikvertrages der Nato - im Falle eines ausländischen Angriffes auf einen der Mitgliedstaaten den Bündnisfall vor. Allerdings steht die Begründung auf wackligen Füßen: Bislang gibt es keine Anzeichen dafür, dass die Proteste ihren Ursprung im Ausland haben.

Erst in diesem Sommer hatte das Bündnis ein Hilfegesuch Armeniens im Kampf gegen Aserbaidschan im Bergkarabach-Konflikt abgelehnt. Auch einer Aufforderung zum Eingreifen bei ethnischen Ausschreitungen in Kirgistan 2010 kam die OVKS nicht nach. Warum gerade die Situation in Kasachstan das Bündnis zum Handeln bewegte, bleibt unklar. Als sicher gilt, dass die Entscheidung zum Eingreifen - trotz der formal kollektiven Entscheidungsstrukturen im OVKS - im Kreml getroffen wurde. Die Proteste seien ein ausländischer Versuch, die Sicherheit und Integrität Kasaschstans durch Gewalt zu untergraben, erklärte das russische Außenministerium in einer Stellungnahme am frühen Donnerstagnachmittag. Wie das Eingreifen von Moskau, das die kasachische Souveränität in den vergangenen Jahren mehrmals in Frage stellte, im Lande ankommt, ist derzeit unklar. Im Dezember 2020 hatten der Dumaabgeordnete Wjatscheslaw Nikokonow für Spannungen gesorgt, als er erklärte, dass kasachische Territorium sei ein Geschenk Russlands und der Sowjetunion.

Die Proteste in Kasachstans großen Städten gingen unterdessen weiter. In Almaty waren am Abend (Ortszeit) Schüsse und Explosionen zu hören, vor der Stadtverwaltung stieg Rauch auf , etwa 2000 Menschen sollen in der Stadt festgenommen worden sein.

Altpräsident Nursultan Nasarbajew, gegen den sich die Proteste richten, soll Kasachstan verlassen haben. Einem Bericht des russischen Investigativmediums »The Insider« zufolge ist er nach Dubai geflogen.

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