- Berlin
- Berliner Sozialsenatorin Katja Kipping
»Ich bin wild entschlossen«
Die neue Sozialsenatorin Katja Kipping (Linke) will die Situation für arme und benachteiligte Berliner und Berlinerinnen verbessern
Sie kommen aus der Bundespolitik und sind seit zweieinhalb Wochen Sozialsenatorin dieser Stadt. Wie schauen Sie als profilierte Sozialpolitikerin auf Berlin?
Katja Kipping (Linke) war 16 Jahre Mitglied des Bundestages und sozialpolitische Sprecherin ihrer Fraktion. Von 2012 bis 2021 war die 43-Jährige Co-Vorsitzende ihrer Partei und von 2003 bis 2012 Stellvertretende Parteivorsitzende. Über ihre neue Aufgabe als Berliner Senatorin für Integration, Arbeit und Soziales sprach mit ihr Claudia Krieg.
Mein erster Blick auf Berlin ist ein persönlicher. Schon als Abiturientin war Berlin für mich ein Ort der besonderen Faszination. Während der Abi-Zeit haben meine Freundin und ich uns damit belohnt, dass wir direkt nach der letzten Prüfung nach Berlin getrampt sind. Dann war es für mich lange die Stadt, von der aus ich nach Dresden gependelt bin. Die Stadt, in der ich für meine Tochter einen Kitaplatz gesucht habe. Mit der sozialpolitischen Brille sehe ich Berlin als die Stadt, in der leider viele Menschen in Armut leben. Es ist zudem eine Stadt, in der 35 Prozent der Bevölkerung eine Migrationsgeschichte haben, was auch die Vielfalt und den Reichtum der Stadt ausmacht.
Und was denkt die ehemalige Bundespolitikerin?
Als Bundespolitikerin konnte ich sagen: So manches, was Berlin geschaffen hat, das sollte überall Schule machen, zum Beispiel die AV Wohnen (eine Ausführungsverordnung, die regelt, welche Kosten für Unterkunft und Heizung im Rahmen der Grundsicherung übernommen werden; Anm. d. Red.). Berlin war das erste Bundesland, das die Mietkosten komplett das erste Jahr übernommen hat, damit, wer in Hartz IV fällt, nicht gleich auf Wohnungssuche gehen muss, sondern sich erst mal auf Jobsuche begeben kann. Jetzt soll diese Regelung aber im Bund kommen. Die ersten zwei Jahre sollen komplett die Unterkunftskosten übernommen werden. Wir sehen: Berlin hat einen Standard gesetzt. Ebenso sind die sachgrundlosen Befristungen im Zuständigkeitsbereich des Landes abgeschafft. Die Ampel im Bund hingegen hat dies nicht mal im eigenen Zuständigkeitsbereich untersagt. Dabei hätte sie die Kompetenz, sachgrundlose Befristung komplett abzuschaffen. Stattdessen steht da eine windelweiche Formulierung.
Bleiben wir beim Konkreten: Elke Breitenbach hat den Masterplan zur Beendigung von Wohnungslosigkeit mit vorangetrieben. Wie geht es damit weiter?
Wir verdanken es Elke Breitenbach, dass der Masterplan Bestandteil des Koalitionsvertrages ist. Jetzt obliegt es der Senatsverwaltung für Integration, Arbeit und Soziales, dass er auch umgesetzt wird. Dass Housing First, das als Modellprojekt gestartet ist, verstetigt wird. Dass bei der gesamtstädtischen Steuerung zur Unterbringung, die mit zwei Bezirken und dem Landesamt für Flüchtlingsangelegenheiten gestartet ist, demnächst weitere Bezirke dazukommen.
Ihre Vorgängerin hat sich auch für eine ressortübergreifende Zusammenarbeit ausgesprochen. Nun ist das im Fall der Bekämpfung von Wohnungs- und Obdachlosigkeit wichtige Ressort der Stadtentwicklung an die SPD gegangen. Ein möglicher Konflikt?
Alle im Senat stehen in der Verantwortung, sicherzustellen, dass die Stadt nicht zur Beute einiger weniger Immobilienkonzerne wird. Ansonsten ist zu sagen: Wir hatten bisher zwei Senatssitzungen, da fand ich die Atmosphäre sehr produktiv. Sie war von dem Gefühl getragen: Wir haben hier gemeinsam eine Krise zu bearbeiten. Wir stehen zudem vor akuten Herausforderungen. Dazu gehört: Regieren unter einer vorläufigen Haushaltswirtschaft. Ein Projekt wie Housing First, das gerade vom Pilotprojekt in die Verstetigung überführt werden soll, wäre bei einer bürokratischen und lebensfremden Auslegung der vorläufigen Haushaltswirtschaft gefährdet. Hier sind meine Staatssekretärin Wenke Christoph und ich aktiv geworden, um es abzusichern. Die bisherigen Reaktionen der anderen Senatsmitglieder waren da ermutigend.
Stichwort »Gemeinsam aus der Krise«: Wie steht es um die Armutsbekämpfung in Berlin in der Corona-Pandemie?
Zunächst hatte Berlin sehr schnell Hilfen für Kunstschaffende und Solo-Selbstständige bereitgestellt. Auch dank des Einsatzes von Klaus Lederer und der Berliner Linken ist sehr darauf geachtet worden, dass bei den Kontaktbeschränkungen die Lebenswirklichkeit von Singles berücksichtigt wurde, dass hier nicht nur die Kleinfamilie Mama, Papa, Kind zählte, sondern vielfältige Lebensformen mitgedacht wurden. Auch der Einsatz für die Buchläden, also dass sie während des Lockdowns geöffnet bleiben durften - das war stark und beispielhaft.
Aber vielen Menschen im Niedriglohnbereich sind die Jobs weggebrochen, auch für viele andere Geringverdiener*innen hat sich die Situation verschärft.
Das stimmt. Hier muss man einfach sagen, dass es in der Verantwortung des Bundes liegt, einen Pandemiezuschlag zu zahlen, und zwar monatlich - für Menschen, die auf Sozialleistungen angewiesen sind und auch für Rentner*innen, die aufstocken müssen. Ebenso ist der Bund verantwortlich, eine Art Kurzarbeitergeld-Lösung für Minijobbende und für Solo-Selbstständige hinzubekommen. Ich habe das Überbrückungsgeld beziehungsweise Krisen-Grundeinkommen genannt. Eins muss man immer wieder sagen: Wenn ihr soziale Garantien wollt - und ich streite dafür -, dann müssen wir für andere Mehrheiten im Bund sorgen.
Eine Ihrer ersten Amtshandlungen war es, sich mit wohnungs- und obdachlosen Menschen zu treffen. Wie stellt sich die Krise für Sie aus deren Perspektive dar?
Das Land Berlin, im Besonderen die Sozialverwaltung, hat sichergestellt, dass die unmittelbaren Folgen für die Menschen abgefedert wurden. Es wurden zusätzliche Räume geschaffen, wo Abstand eingehalten werden konnte und kann. Es gab und gibt spezielle Impfangebote und Testangebote, an Orten, zu denen die Menschen Vertrauen und einen leichten Zugang haben. Hier gleichen wir auch einen Fehler des Bundes aus: Der Bund hat eine Ausweispflicht für die Bürgertests erhoben. Das ist für Menschen ohne Papiere, aber auch für Wohnungslose oft eine enorme Hürde. Wir haben Testangebote ohne Ausweispflicht.
Spiegelt sich das auch in Gesprächen wider? Sie waren ja mit der Kältehilfe der Stadtmission unterwegs.
Eine Erfahrung, bei der ich sehen konnte, was für ein unglaublich breites Engagement es in Berlin gibt. Unterschiedliche Leute ziehen zusammen an einem Strang und helfen anderen - in dem Fall eine junge Frau, die Soziale Arbeit studiert, und ein ehemaliger Wohnungsloser mit eigener Suchtgeschichte, der dank der Kältehilfe da rausgekommen ist. Auch die vulnerablen Gruppen sind sehr unterschiedlich aufgestellt: Ich habe Wohnungslose erlebt, die so schlechte Erfahrungen machen oder so viele Probleme haben, dass sie anfangs nicht mal eine warme Tasse Tee entgegennahmen. Aber ich habe auch mit Wohnungslosen gesprochen, die gut organisiert sind, sich selbst im Impfzentrum den Impftermin organisiert haben, das Zertifikat auf ihrem Handy haben. Als ich da mit meiner Papier-Broschüre zur Kältehilfe kam, haben sie mir schon die Angebote digital gezeigt. Eines ist jedoch gleich: Alle haben ein Recht darauf, dass wir ihnen mit Respekt begegnen, ohne Bevormundung.
Die Unterschiede, die Berlin ausmachen, bringen aber auch Probleme mit sich: In den Bezirksverwaltungen gibt es große Unterschiede bei Bearbeitungsvorgängen.
Ich habe in den ersten Kennenlerngesprächen in der Verwaltung Menschen voller Einsatzbereitschaft erlebt. Fakt ist, dass der Sparzwang, der in der Vergangenheit auch dem Land Berlin im Geiste der neoliberalen Austerität aufgezwungen wurde, der Verwaltung und dem Arbeitsklima nicht gutgetan hat. Er führt zu mentaler Erschöpfung. Umso wichtiger ist es, dass dieser Zeitgeist überwunden wurde und dass auch die Zeiten von Ex-Finanzsenator Thilo Sarrazin endgültig vorbei sind. Die Zeiten des neoliberalen Spar-Austeritätskurses sollten nie wieder eine Reanimation erfahren.
Zugleich ist die Erfahrung vieler Menschen real: Sie werden abgewiesen, erfahren Diskriminierung.
Ja, der Einsatz für Antidiskriminierung und für Vereinfachung der Vorgänge muss weitergehen. Wir können noch viel vereinfachen. So wie mit der gesamtstädtischen Steuerung der Unterbringung. Ebenso soll das digitale Tarifregister kommen. Wenn alle Branchentarifverträge in Leitz-Ordnern in einem Riesenraum hängen: Wer schafft es denn heutzutage, da hinzugehen und zu schauen, welche Bedingungen es eigentlich in meinem Unternehmen sein müssten? Wir arbeiten an der Digitalisierung und der Vereinfachung von Abläufen - und das mit der klaren sozialen Maßgabe, die Situation für Arme und Arbeitende, für Beschäftigte nachhaltig zu verbessern.
Wird es auch eine Entbürokratisierung in den Jobcentern geben?
Ich bin gespannt auf die Treffen mit den Jobcentern. Wenn wir 100-prozentige Sanktionsfreiheit wollen, muss das in den Bundesgesetzen erstritten werden. Aber ich kann Empfehlungen geben. Ein Beispiel: In Zeiten des Homeschoolings oder des gelegentlichen E-Learnings muss sichergestellt werden, dass auch Schülerinnen und Schüler aus ärmeren Familien ein Endgerät bekommen. Dummerweise - darauf haben auch der Berliner Flüchtlingsrat und die Sozialhilfeberatung Tacheles hingewiesen - ist mit einem Auslaufen der pandemischen Notlage im Bund auch eine entsprechende Dienstanweisung ausgelaufen, wonach da vorausschauend geholfen werden kann. Das Problem habe ich dann mal auf dem kurzen Dienstweg Richtung Bundesministerium gemeldet. Und natürlich möchte ich auch gegenüber den Jobcentern ausstrahlen: Hier braucht es lebenspraktische und schnelle Hilfe für Betroffene. Ein anderes Beispiel: Ich habe im Bund immer darum gekämpft, dass unabhängige Erwerbslosenberatungen finanziert werden. Da hat sich jede Bundesregierung bisher verweigert. Berlin hingegen fördert mit dem Berliner Arbeitslosenzentrum BALZ eine unabhängige Erwerbslosenberatung. Mit Blick nach vorne: Ich bin wild entschlossen, die Handlungsspielräume der Landespolitik aufzuspüren und zu nutzen für ein soziales und solidarisches Berlin, das niemanden zurücklässt und das zur Vorreiterin für gute Arbeit wird.
Sind diese Handlungsspielräume auch ein Reiz der neuen Aufgabe?
Auf jeden Fall. Immer wieder zu schauen, wie wir den größtmöglichen sozialen Fortschritt voranbringen können - das fordert mich auf spannende Art heraus und entspricht mir auch.
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