Worten folgen Taten

In Graz will eine kommunistisch geführte Stadtverwaltung die Distanz zwischen Bürgern und Politik verringern

  • Stefan Schocher, Wien
  • Lesedauer: 10 Min.

Wenn Veronika Burger in Rage gerät, dann springen die Locken ihrer kurzen Dauerwelle auf und ab wie Springfedern. Und es gibt viele Dinge, die sie auf die Palme treiben: die Missstände in Politik und Wirtschaft, die tristen Lebenslagen, in die Menschen geraten können. Sie selbst hat einiges mitgemacht, sagt sie. In einer Kleiderfabrik hat Burger gearbeitet, auch in einer Bleistiftfabrik, fünf Kinder hat sie zur Welt gebracht. Die Betriebe, in denen sie einmal gearbeitet hat, sind heute längst zu. Es müsste sie nicht mehr kümmern, schließlich ist die Pensionistin bereits 75 Jahre alt und versorgt. Es kümmert sie aber doch. Und darum springen sie auf und ab, die Haare auf ihrem Kopf.

Jetzt steht Veronika Burger im Foyer des VinziTels in Graz und ihre Locken beben. Das VinziTel ist eine Notschlafstelle mit 23 Betten. Gerade einmal drei sind heute noch frei. Gleich daneben befindet sich die Pfarrei St. Vinzenz. Die Einrichtung und die Pfarrei in einem Vorort der Stadt gehören zusammen. Es ist ein Ort, an dem sich wie unter einem Vergrößerungsglas bündelt, was in der zweitgrößten Stadt Österreichs schief läuft. Menschen wohnen hier, die sich keine Wohnung mehr leisten können; Menschen, denen der Strom mitten im Winter abgedreht worden ist; Menschen, deren Partnerschaft gerade in die Brüche gegangen ist und die keinen Platz zum Übernachten haben; Menschen, die in keine soziale Versorgungskategorie fallen und vor dem Nichts stehen. Oder eben vor Veronika Burger - die sitzt hinter der verglasten Rezeption und schaut, dass alles seine Ordnung hat in dem Haus. Eine Freiwillige ist sie hier. Seit Jahren. Weil es Sinn macht, wie sie betont.

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Neben ihr sitzt an diesem Tag Max Puchmayr. Der junge Mann im schwarzen Hoodie ist Soziologiestudent. Auf der linken Brustseite trägt er einen kleinen gestickten Karl Marx, der beide Daumen hochstreckt. Darunter steht: »Karl mag’s.« Seinen zweiten Dienst schiebt er heute im VinziTel - und die Veronika Burger, die zeigt ihm als Altgediente, wo was ist und wie man was handhabt. Ein ruhiger Typ ist der Max Puchmayr.

Neue Wege für Graz

Seit Mitte November hat Graz eine neue Stadtregierung. Eine, zu der Veronika Burger frei heraus sagt: »Super ist das für die Stadt.« Und Max Puchmayr nickt zustimmend. Es ist eine rot-grün-rote Koalition unter Führung der Kommunisten, die Graz nun lenkt. Knapp 29 Prozent räumten die Kommunisten bei der Wahl ab und wurden mit Abstand stärkste Partei, gewählt wurde dabei auch nd-Autor Max Zirngast. Bis in zutiefst bürgerliche Bezirke reicht der Wahlerfolg der KPÖ. Weit hinein auch in kirchliche oder kirchennahe Strukturen wie das VinziWerk und auch in soziale Problembezirke.

Graz ist eine kleine Großstadt mit 250 000 Einwohnern. Sie ist ein kulturelles Zentrum mit alteingesessener Universität und zugleich ein wirtschaftliches und industrielles Zentrum Südösterreichs - mit allen Licht- wie Schattenseiten. Über die Bühne ist der Wechsel an der Spitze der Stadtregierung noch nicht ganz. Erst nach dem Rechnungsschluss im März werde man einen genauen Überblick über die Finanzen haben, sagt Bürgermeisterin Elke Kahr. Sie sitzt im Volkshaus in Graz, dem Hauptquartier der KPÖ in der Stadt, und fragt: »Kaffee? Tee? Vielleicht ein Bier?« In welchem Zustand sie Graz übernommen habe, das könne sie noch nicht genau beurteilen.

Erste Schritte wurden aber bereits unternommen: Zunächst einmal wurden Müll- und Kanalgebühren nicht weiter angehoben. Die Dienstfahrzeuge der Stadtregierung wurden veräußert. Die Graz-Holding, eine Beteiligungsgesellschaft der Stadt, zu der Müllabfuhr, Nahverkehr und auch der internationale Flughafen gehören, wurden neu aufgestellt. Und eine Senkung der Klubförderung für die Grazer Parteien wurde durchgesetzt, durch die auch die KPÖ selbst weniger erhält. Das dadurch eingesparte Geld geht an einen neuen Sozialfonds.

Die Kernprojekte für die nächsten Jahre aber sind ein Ausbau des sozialen Wohnbaus - Graz hat hier eine Abdeckung von gerade einmal fünf Prozent - sowie eine verstärkte Einbindung der Bürger in die politischen Entscheidungsprozesse: Sie und nicht Investoren sollen stadtplanerische Projekte vorschlagen, die der Gemeinderat dann absegnet. Und vor allem eins ist wichtig: die Umsetzung eines unkomplizierteren Zugangs zu Sozialleistungen und auch ein Ausbau des Bezieherkreises. Denn das ist das wohl schwerwiegendste Problem der Stadt.

»Die Bedingungen, damit man Leistungen von der Stadt beziehen kann, sind schwieriger geworden in den letzten Jahren. Die Menschen haben das Gefühl bekommen, dass man sie im Stich lässt, dass man sie aus dem Blick verliert.« Das sagt Pfarrer Wolfgang Pucher dazu, was sich in der zurückliegenden Epoche in Graz verändert hat. Da regierte die ÖVP, zuletzt in Koalition mit der FPÖ.

Wolfang Pucher ist ein Grazer Urgestein des Kampfes für Gleichheit und soziale Anliegen. Gegen ein Bettelverbot in der Stadt hat er genauso aktionistisch und laut gekämpft wie für einen humanen Umgang mit Geflüchteten. Das VinziWerk mit seinen Schlafstellen und weiteren Einrichtungen in der Stadt ist sein Kind - und eines, das österreichweit als Sozialprojekt Anerkennung findet. Pucher sagt, in den vergangenen zwei Jahrzehnten sei verbreitet das Gefühl entstanden, »dass Entscheidungen gefällt wurden im Sinne jener, denen es eh gut geht«. Eine Gesellschaft sei aber daran zu messen, wie sie mit den Schwächsten umgehe.

Und die Schwächsten sind es, für die es derzeit eben keine anderen Orte gibt als das VinziTel oder ähnliche Unterkünfte. »Die sind alle überheblich geworden«, sagt Veronika Burger im Foyer des VinziTel. Und wen sie meint, das ist klar: den abgewählten Bürgermeister Siegfried Nagl von der ÖVP und dessen Stadtregierung. Die Folgen sieht Burger während ihrer ehrenamtlichen Tätigkeit: »Der Bedarf ist riesig.« Max Puchmayr nickt.

Ein Mann betritt das Foyer. Der etwa 40-Jährige wohnt schon seit einiger Zeit hier. Er klagt über Magenschmerzen und Schwindel und darüber, dass er seine Medikamente nicht vertrage. Auch das eine oder andere Glas zu viel dürfte dazu beigetragen haben. Veronika Burger redet ihm zu, sich doch hinzulegen und auszuschlafen, fragt ihn, ob er denn einen Tee wolle. Smalltalk. Max Puchmayr gibt ihm den Schlüssel zu seinem Zimmer. Ein Lächeln durch den Mund-NasenSchutz. »Bis morgen«, sagt der Mann und verschwindet.

Handeln aus Überzeugung

Graz ist eine Stadt, in der alle einander irgendwie kennen. Und Wolfgang Pucher und die neue Bürgermeisterin Elke Kahr, die kennen einander seit Jahrzehnten. »Ich bin ohne Bekenntnis«, sagt Kahr. Aber im selben Atemzug, eine Zigarette in der Hand, räumt sie ein: »Man kann nicht ohne Werte etwas leben, an das man glaubt.« Überzeugung sei für sie etwas ganz Wichtiges. »Einer findet sie in der Religion, andere finden sie woanders.« Und gemeinsame Schnittmengen bei Einrichtungen wie dem VinziWerk oder den Häusern der Caritas, die seien in Graz richtig groß.

Das hat ganz sachliche Gründe. Der Aufstieg der KPÖ in Graz fußt besonders auf einem: Die Partei ist vor allem beratend tätig - und das seit Jahrzehnten. Begonnen hat das mit einer Beratung in Wohnungs- und Mietfragen, dank deren Erfolg die KPÖ 1998 erstmals in den Stadtrat gelangte; heute beinhaltet das fast alle Bürgerservice-Bereiche von Wohn- bis Sozialfragen. Kahr nennt das die logische Folge einer sukzessiven Anhäufung von Kompetenzen.

Verzicht auf Privilegien

Praktisch sieht das dann so aus: Mandatare der KPÖ waren und sind für Anliegen der Bürger immer direkt erreichbar. Und in sozialen Notfällen wird unbürokratisch mit Geld ausgeholfen. Sei es, dass fällige Strom- oder Gasrechnungen bezahlt werden oder Schulstartpakete. Und das wiederum funktioniert, indem alle Volksvertreter der KPÖ-Steiermark einen Teil ihrer Politikerbezüge in einen Fonds einzahlen. Insgesamt 2,3 Millionen Euro konnten seit 1998 über diesen Weg an Menschen in Notlagen ausgezahlt werden.

Und das zeigte Wirkung. Seit Mitte der 1990er Jahre ist die KPÖ ein fester Bestandteil des politischen Lebens in der Steiermark und vor allem in Graz. Nah am Bürger, nah an den Problemen und damit auch nah an möglichen Lösungen oder Verbesserungen zu sein, ist politisches Konzept. Der immer wieder laut werdende Vorwurf des indirekten Stimmenkaufs prallt bei den Grazern ab. In der öffentlichen Wahrnehmung ist die KPÖ gleichermaßen Partei wie sozialer Hilfsdienst - im Chor mit Organisationen wie Caritas oder eben dem VinziWerk. Man übergibt einander Fälle, hilft einander mit Informationen oder Ressourcen. Pfarrer Pucher sagt dazu: »Die jetzige Bürgermeisterin hat ein vorbildliches Verhalten mit dem eigenen Einkommen an den Tag gelegt. Sie war das klassische Anti-Beispiel zu jenen, die nur im eigenen Sinne abräumen.« Gleich nach der Wahl habe Kahr ihn um ein Treffen gebeten, um seine Bestandsaufnahme der sozialen Lage in Graz zu hören.

Und Kahr sagt: »Ich habe den größten Respekt vor einem engagierten Christen, der danach handelt - mehr als vor irgendjemandem, der sich links nennt, der schwafelt, aber nichts tut. Da ist mir der engagierte Christ tausendmal lieber. Nur von großen Worten hat niemand etwas.« Das Engagement christlicher Einrichtungen wie Caritas oder VinziWerk in Graz nennt Kahr »großartig«.

Der Sieg der KPÖ in Graz hat in Österreich und ganz Europa große Wellen geschlagen. Verfassungsministerin Karoline Edtstadler (ÖVP) sagte, sie bekomme da »alle Zustände«. Ex-Kanzler Sebastian Kurz (ÖVP) befand, dass der Sieg der KPÖ in Graz etwas sei, »das nachdenklich stimmen sollte«. Die Grazer ÖVP schweigt zu ihrer Niederlage und war für eine Stellungnahme nicht zu erreichen.

»Ich weiß nicht, warum man sich so am Wort Kommunismus fest macht«, sagt Wolfgang Pucher. »Man könnte es auch umdrehen: Wie christlich sind denn Politiker von so manchen christlich-sozialen Parteien?« Verallgemeinern will er nicht und nennt einzelne Stadtpolitiker auch von ÖVP und FPÖ, die ein offenes Ohr und ein soziales Gewissen hätten. Er spricht aber auch das Flüchtlingslager Moria in Griechenland an und dass die ÖVP jede Aufnahme von Familien oder auch unbegleiteten Minderjährigen von dort abgelehnt hat. Pucher: »Da ging es rein um den Vorteil unserer Gesellschaft, bei uns steht nach wie vor im Vordergrund, unseren Wohlstand zu bewahren, da darf niemand daran knabbern.« Am Teilen fehle es, an Empathie. Für ihn ist das »die Sünde der Distanz«.

Diese Distanz zwischen Politik und Bürgern, zwischen Entscheidungsträgern und den von Entscheidungen Betroffenen, ist es auch, die die neue Stadtführung abbauen möchte. Einen anderen Stil will sie etablieren. Als »abgehoben« beschreibt Veronika Burger den der Vorgänger-Stadtregierung - diese Bürgerferne sei es auch gewesen, die ihrer Abwahl zugrunde liege. Teure Pläne hatte der abgewählte Bürgermeister Siegfried Nagl. Politische Denkmäler wollte der bauen: eine U-Bahn, eine Gondelbahn auf den Schlossberg. Pläne, die keine Mehrheit fanden und vor allem an den eigentlichen Notwendigkeiten vorbeigehen.

Hoffnung auf Veränderung

»Da geht es um Glaubwürdigkeit und darum, auch für mich selbst, Vorbild zu sein«, sagt Elke Kahr. Das sei ganz wichtig. Sie lacht, nimmt einen Zug von der Zigarette und sagt: »Das sind ja fast katholische Attribute.« Es folgt eine Pause. Ihr Anspruch sei es eben, »niemanden ohne Hoffnung aus der Tür da herauszulassen«. Sie weist zum Ausgang des Volkshauses. Hoffnung ist es, die auch Veronika Burger und Max Puchmayr antreibt. Die Hoffnung, etwas verändern zu können. Wenn sie sieht, dass Menschen um Essensausgaben schleichen, erzählt Burger, zu stolz, um ein Brot oder einen Tee zu nehmen - »drei, vier Wochen im selben Gewand«. »Die gehen nicht aufs Sozialamt, die sparen einmal, wo es nur geht.« Und irgendwann würden sie doch den Tee nehmen und ein Brot. Aber nicht darum gehe es. Sondern viel eher um die Anerkennung, um ein Gespräch, um ein freundliches Wort. Und an den Zuständen, so hofft sie, werde sich schon etwas ändern in Graz - unter der neuen Stadtregierung.

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