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860 Milliarden für die grüne Zukunft
Der Lobbyverband BDI ist bezüglich des grünen Umbaus der Industrie optimistisch
Der »klassische« Industriearbeitsplatz gehöre ins vorherige Jahrhundert, schrieb der Präsident der Bundesvereinigung Deutscher Arbeitgeberverbände, Rainer Dulger, am Donnerstag in einem Gastbeitrag in der konservativen »Frankfurter Allgemeinen Zeitung«. Das sieht Industriepräsident Siegfried Russwurm selbstverständlich ganz anders. In einer am selben Tag stattfindenden Pressekonferenz wies der Industrielobbyverband BDI darauf hin, dass die industrielle Basis »Kern der Volkswirtschaft« sei. Rund ein Viertel der deutschen Wertschöpfung komme aus der Industrie.
»Mit verhaltener Zuversicht« blickt der Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) auf die wirtschaftliche Erholung. Viel hängt dabei für die exportorientierte Industrie von der Entwicklung der Weltwirtschaft ab. Zur Zuversicht trägt nun auch die Eröffnungsbilanz des grünen Wirtschafts- und Klimaministers Robert Habeck bei. »In der Problembeschreibung sind wir mit Herrn Habeck einer Meinung«, sagte der BDI-Präsident am Donnerstag in Berlin. Auf 860 Milliarden Euro taxiert Russwurm den Investitionsbedarf in den kommenden zehn Jahren, allein für die Dekarbonisierung.
Diese Zahl gilt zwar als nicht in Stein gemeißelt. Aber eine neue Studie des gewerkschaftsnahen Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) kommt zu einem ähnlich hohen Finanzierungsbedarf. Dabei hält das IMK eine grundgesetzkonforme Finanzierung des zusätzlichen öffentlichen Investitionsbedarfs von 60 bis 80 Milliarden Euro im Jahr für möglich.
Das sei jedoch nicht ausreichend. Der BDI verweist unter anderem auf die Umrüstung der Fabriken beispielsweise auf »grünen« Wasserstoff. Hier sei auch die Industrie in der Pflicht. So veranschlagt die Salzgitter AG allein für den Umbau ihres Hüttenwerkes in Salzgitter drei bis vier Milliarden Euro. Solle die große Transformation klappen, so Russwurm, müsse die private Wirtschaft etwa die vierfache Investitionssumme wie der Staat aufbringen. Dazu sei sie bereit, aber die Regierung müsse die Rahmenbedingungen für Investitionen und Betrieb schaffen, »damit sich das auch lohnt«. Der Pfad zu einem klimaneutralen Industrieland sei begehbar, so der BDI-Präsident, »aber der Pfad ist schmal«. Allein die Chemieindustrie schätzt ihren Energiebedarf für Mitte der 2030er Jahre auf 628 Terawattstunden, mehr als der gesamte deutsche Stromverbrauch von 550 Terawattstunden heute. Dabei wird über 70 Prozent der in Deutschland verbrauchten Energien importiert. Atomstrom aus Frankreich oder Kohlestrom aus Polen wollte Cheflobbyist Russwurm daher auch für die Zukunft nicht gänzlich ausschließen.
Auf die Frage nach russischem Erdgas antwortet der BDI-Präsident, dass dieses preislich »günstig« sei. Und Erdgas - jeweils etwa ein Drittel stammt aus Russland, Niederlande und Norwegen - sei als »Übergangspfad« zur Klimaneutralität notwendig. Der Stahlkonzern Salzgitter schätzt, dass er bereits durch den Ersatz von Kohle durch Erdgas seine CO2-Emissionen um 60 Prozent reduzieren könne.
Auch über das Ziel der Klimaneutralität sei sich die Industrie mit Habeck einig, so Russwurm, aber über den Weg dahin nicht in jedem Punkt. Die Pläne der Bundesregierung aus SPD, Grünen und FDP müssten im ersten Halbjahr konkretisiert werden, damit die Ingenieure in den Unternehmen loslegen könnten. Andernfalls könne der ehrgeizige Zeitplan nicht eingehalten werden. Außerdem fordert der Lobbyverband BDI, ähnlich wie das gewerkschaftsnahe IMK, einen Zehnjahresplan.
»Mit den richtigen Rahmenbedingungen besteht aber auch die Chance«, so Russwurm, »dass das neue Jahr das Jahr mit der stärksten Wirtschaftsdynamik« werde. Wären da nicht die vielen Risiken: anhaltende Lieferengpässe, ein Fachkräftemangel, der sich um 2025 noch beschleunigen könnte, steigende Energiekosten, ehrgeizige Klima- und Digitalwende, die Spannungen zwischen den USA, China und Russland sowie eine fünfte Corona-Welle.
Zurzeit beschäftigt noch die Omikron-Welle den Wirtschaftszweig mit seinen acht Millionen Beschäftigten. Die rasant steigenden Infektionszahlen könnten zu einer hohen Zahl von Krankmeldungen führen und dadurch die Produktion behindern. »Für eine im internationalen Wettbewerb stehende Industrienation braucht es dringend einen einheitlichen, evidenzbasierten Langzeitplan zur Eindämmung der Pandemie«, forderte der BDI-Präsident. Vor allem verlange er von der Corona-Politik in Bund und Ländern verlässlichere Daten.
Für Deutschland erwartet der BDI in diesem Jahr ein Wirtschaftswachstum in einer Größenordnung von 3,5 Prozent - nach 2,5 Prozent im vergangenen Jahr. Die deutschen Exporte würden in diesem Jahr wohl um vier Prozent zulegen. Mehr wäre möglich: »Die Auftragsbücher sind voll.« Doch die Produktion hält aufgrund pandemiebedingter Einschränkungen und Lieferengpässe nicht mit der Nachfrage mit. Zumindest letzteres werde sich im Laufe des Jahres lösen lassen. So gehe man in der Autoindustrie davon aus, dass das Schlimmste überstanden sei. Die klassische Industriearbeit strebt vorwärts, dabei wandelt sie sich und steht vor gewaltigen Herausforderungen.
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