Mittellos und vogelfrei

Ortskräfte der GIZ bangen in Afghanistan um ihr Leben und flehen um Hilfe. Als Antwort erhalten sie lapidare E-Mails

  • Philip Malzahn, Kabul und Masar-e Scharif
  • Lesedauer: 7 Min.

Es ist wie in einem Film: Am Stadtrand von Kabul, ein geheimes Treffen mit Männern, die nicht erkannt werden dürfen. Es schneit. Bettler wühlen im Müll, während alle anderen einfach vorbeihuschen. Ein Tor, drei Mal klopfen. Ein Vermummter öffnet die Tür. Rein in das Haus, vier Stockwerke, alle leer. Nach und nach klopft es weiter. Eine halbe Stunde, dann sind alle da. Fast alle. »Zwei Kollegen haben es nicht geschafft. Der Weg war zu gefährlich«, sagt Habib* (Namen geändert). Im obersten Stockwerk mit Blick auf den Hof und die Nachbarhäuser wird geredet. Alle Männer bis auf einen tragen lange Bärte und traditionelle Kleidung. Das sei nicht immer so gewesen, erzählen sie. Aber sie dürfen in diesen Tagen nicht auffallen, denn das könnte sehr wohl das Letzte sein, was sie tun. Vor einem halben Jahr noch waren sie Lehrer, die im Auftrag der staatlichen deutschen Entwicklungsorganisation Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) afghanische Polizeikräfte unterrichteten: Lesen, Schreiben, Grundlagen von Staats- und Strafrecht, dazu auch Gender- und Umweltthemen. Heute sind sie Männer, die um ihr Leben fürchten.

Tränen und Hiebe

Abdulrahman muss weinen, als er beginnt zu erzählen: Es ist Juli, die internationalen Streitkräfte sind nach 20 Jahren Krieg dabei, Afghanistan Hals über Kopf zu verlassen. Während am 15. August die Hauptstadt Kabul in ihre Hände fallen wird und die dramatischen Bilder vom Flughafen um die Welt gehen werden, sind die Taliban bereits in den Monaten davor auf einem unaufhaltsamen Eroberungsfeldzug.

Die Provinz Parwan, in der Abdulrahman lebte und für die GIZ arbeitete, fällt im Juli in die Hände der Taliban. Immer wieder verbirgt er sein Gesicht beim Erzählen in den Händen. Acht Stunden haben die Taliban ihn an einem Baum aufgehängt, bis beide Arme gebrochen waren. Acht Stunden haben sie ihn geschlagen, bis seine Rippen gebrochen waren, seine Mutter und Schwester misshandelt. Das Haus der Familie wurde von den Taliban enteignet, heute betreiben sie dort eine Koranschule.

Abdulrahman ist danach nach Kabul geflohen, wo er bis heute versteckt lebt. Die GIZ zahlte ihm ein Schmerzensgeld von circa 90 000 Afghani. Das sind umgerechnet 750 Euro. Er sagt, er habe das Geld nie erhalten. Der GIZ-Abteilungsleiter für die Provinz Parwan hat es nach seinen Angaben eingesteckt. Seitdem sei er von der Bildfläche verschwunden.

Das Police Cooperation Project (PCP) war ein seit 2014 laufendes Kooperationsprojekt zwischen dem afghanischen Innenministerium und der GIZ. »Seit Projektstart waren rund 3000 Personen eingesetzt, der allergrößte Teil als Einzelgutachterinnen und Einzelgutachter und nicht in Form eines dauerhaften Beschäftigungsverhältnisses«, sagt dazu eine GIZ-Sprecherin gegenüber »nd«. Nach eigenen Angaben hat keiner der Mitarbeiter eine offizielle Kündigung der GIZ erhalten. Die Bundesregierung habe die GIZ-Projekte zum 16. August ausgesetzt, somit auch das PCP, so die Sprecherin. Im Fokus stand dabei die Ausbildung der afghanischen Polizeikräfte in 25 der 34 Provinzen Afghanistans. Die Lehrer erhielten im Schnitt monatlich pro Klasse 6800 Afghani, umgerechnet circa 55 Euro. Bis zu drei Klassen konnte man parallel unterrichten. Ihr Job gehörte wohl zu einem der gefährlichsten im Land, und das bereits vor dem Abzug der internationalen Streitkräfte im Sommer 2021.

»Bitte pass auf dich auf. Georg«

Jeder der fünf Männer, die im verlassenen Haus in Kabul von ihrem Schicksal erzählen, hat während seiner Tätigkeit für die GIZ bereits Todesdrohungen durch die Taliban erhalten. Doch für sie war das ein akzeptabler Zustand, ebenso wie das eigentlich mickrige Gehalt. »Wir haben diesen Beruf angenommen, weil wir dachten, wir dienen unserem Land und der Zukunft«, erzählt Habib*. Er arbeitete also bis zum Fall seiner Heimatprovinz Kundus weiter für die GIZ. Und das, obwohl die Taliban ihn nach eigenen Angaben dazu überreden wollen, die Seiten zu wechseln und zum Selbstmordattentäter zu werden. Er lehnt ab. Als die Taliban dann im Mai seine Heimatprovinz Kundus einnehmen, muss er fliehen. In Frauenkleidern entkommt er seinen potenziellen Mördern.

Seitdem lebt er versteckt in Angst. Seine einzige Hoffnung: Das Handy, auf dem er Mail um Mail schreibt, mit dem er versucht, irgendwie einen Weg raus zu finden. Am 18. August, noch während der laufenden Evakuierung, hat er eine Mail an die GIZ geschrieben. In der Antwort wird ihm nahegelegt, ein Formular auszufüllen und seine Daten anzugeben. Am selben Tag schickt er es wie angefordert ab, erhält eine knappe Eingangsbestätigung. Danach wieder Funkstille.

Die Evakuierung endet am 28. August, Habib bleibt da. Im Oktober wendet er sich noch mal an die GIZ. Dieses Mal wird er an die Abteilung OKV - Ortskräfteverfahren - der GIZ weitergeleitet. Dort schildert er noch mal seinen Fall. Bislang erfolglos. Am 20. November schreibt er eine letzte verzweifelte E-Mail an einen Herrn Fritzenwenger, einst Leiter des PCP-Projekts in Kabul. Darin beschreibt Habib seine Flucht, seine fruchtlosen Versuche, über diverse Stellen innerhalb der GIZ sowie über das Auswärtige Amt Hilfe zu bekommen. Er erzählt von seiner Hilflosigkeit, dem Leid seiner Kinder, ihrer Armut. »Ich habe oft probiert, sie zu erreichen, aber habe es nicht geschafft. Ich brauche Ihre Hilfe.«

Die Antwort: knappe fünf Sätze. Ihm seien leider die Hände gebunden, schreibt Fritzenwenger. Die Abteilung Ortskräfteverfahren habe viele Fälle, eine Antwort würde etwas dauern. »Bitte pass auf dich auf. Georg«, heißt es zum Abschied. Die GIZ will sich zu Einzelfällen wie diesem nicht äußern, »aus Datenschutzgründen«, wie es heißt.

Ein Vertrag, der keiner war

De jure hat ein Projektleiter der GIZ tatsächlich keine Entscheidungsmacht darüber, wer in Deutschland Asyl erhält und wer nicht. Doch die Evakuierung afghanischer Ortskräfte folgt auch keinen objektiven Maßstäben, das Schicksal der Menschen liegt nicht allein in den Händen der deutschen Bürokratie. »So viele sind in Deutschland, die eine viel weniger gefährliche Arbeit geleistet haben als wir«, sagt Habib. »Eine Organisation wie die GIZ könnte sicherlich mehr für uns tun, sei es einfach aus Eigeninitiative oder um überhaupt etwas Empathie zu zeigen«, sagt ein anderer aus der Runde. Dutzende E-Mails, die, wenn überhaupt, nur kurz beantwortet werden. Die GIZ hingegen beruft sich darauf, dass die Bundesregierung festlege, wer als Ortskraft anzusehen und somit anspruchsberechtigt sei.

Neben den sozialen Problemen sowie der Gefahr für Leib und Leben durch die Taliban leiden die Afghanen nach dem Abzug der internationalen Streitkräfte unter einer schweren wirtschaftlichen Krise. Haupteinnahmequelle für die Menschen ist die informelle Wirtschaft, also jener Sektor, in dem Geld kaum über Banken fließt oder gar durch die Regierung besteuert wird.

Dazu gehören in Afghanistan vor allem der Handel mit Opium - das Land produziert über 90 Prozent des weltweiten Bedarfs - sowie mit Edelsteinen. Doch diese Strukturen sind fest in der Hand der Taliban beziehungsweise rivalisierender Banden. Die Menschen, die vorher zur sogenannten Mittelschicht gehörten und von dem Geld lebten, das durch die unzähligen Regierungs- und Nichtregierungsorganisationen ins Land kam, führen heute ein Leben am Existenzminimum.

Die Taliban standen vor der Tür

So geht es auch Shaqila. Ihr Mann kam eines Tages nicht nach Hause, seitdem muss sie ihre Tochter und die drei Söhne allein durchbringen. Trotz der riesigen Verantwortung hat sie einen Abschluss in Jura gemacht und arbeitete danach als Dozentin an einer Privatuniversität in der nördlichen Stadt Masar-e Scharif. Im April 2021 bekommt sie einen Vertrag bei der GIZ über sechs Monate. Sie soll am Gericht Frauen in Heirats- oder Scheidungsangelegenheiten vertreten, die sich selber keinen Anwalt leisten können.

Heute, neun Monate später, ist die GIZ nicht mehr im Land. Das ehemalige Büro wurde von Taliban durchsucht und zerstört. Ihre Tochter, die bald 18 wird, musste alle ihre Träume erst mal begraben: Seit etwa vier Monaten sind die Oberschulen und Universitäten für Mädchen und Frauen in Afghanistan geschlossen. Die Familie ist den Taliban bekannt. Nachdem die Kämpfer mehrmals bereits bei ihr vor der Tür gestanden hatten, wechselte sie die Wohnung und lebt woanders zur Miete. 10 000 Afghani kostet die Wohnung. Das sind 83 Euro - so viel, wie Shaquila bei der GIZ monatlich verdient hat. Von sechs zugesagten Gehältern hat sie aber nur zwei erhalten. Ohne Kündigung, ohne Abschied war auf einmal niemand mehr erreichbar. Auf ihre E-Mails wird nicht geantwortet. Die dreifache Mutter kann deshalb ihre Miete nicht zahlen und sorgt sich darum, wie sie ihre Kinder in Zukunft ernähren soll.

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