»Polen ist für Geflüchtete nicht sicher«

Die Linke-Bundestagsabgeordnete Clara Bünger fordert die Evakuierung von Schutzsuchenden aus dem Nachbarland – und die Aussetzung von Dublin-Verfahren

  • Ulrike Wagener
  • Lesedauer: 4 Min.

Sie waren am Wochenende mit einer Delegation von Linken-Politiker*innen an der Grenze zwischen Polen und Belarus. Was ist ihr Fazit aus dieser Reise?
Kurz gesagt: Polen ist für Geflüchtete nicht sicher. Der Zugang zu einem fairen Asylverfahren ist nicht gegeben. Die Menschen werden gewaltsam nach Belarus abgeschoben. Außerdem sitzen fast 2000 Schutzsuchende auf unbestimmte Zeit in Haft. Selbst die polnische Ombudsperson hat die Situation in den Haftlagern als Verstoß gegen Artikel 3 der Europäische Menschenrechtskonvention – also das Verbot von Folter – beschrieben. Ein Geflüchteter aus dem Lager in Wędrzyn berichtete mir, dass er mit über 20 Menschen in einem Raum untergebracht ist. Ihm wurde gesagt, dass er nur zwei Monate inhaftiert wird. Aber er ist jetzt schon vier Monate da, und er weiß einfach nicht, was passiert. Er hat keine Informationen über sein Asylverfahren erhalten. Seine Frau ist immer noch in Afghanistan. Sie ist in Lebensgefahr und er ist inhaftiert – das ist eine schlimme Situation.

Welche Konsequenzen sollte die Bundesregierung daraus ziehen?
Aus meiner Sicht sollten die Menschen aus den Gefangenenlagern und aus der Grenzregion – und zwar auf polnischer und belarussischer Seite – sofort nach Deutschland evakuiert werden. Wir sprechen hier insgesamt von weniger als 3000 Menschen, das ist eine sehr kleine Zahl. Und mit jeder Person, die wir evakuieren, retten wir ein Menschenleben.

Clara Bünger
Clara Bünger ist am 5. Januar für Katja Kipping in den Bundestag nachgerückt. Sie sitzt für die Linke im Rechts- und Innenausschuss. Ulrike Wagener hat sie und weitere Linken-Abgeordnete auf einer Delegationsreise an die polnisch-belarussische Grenze begleitet, mit ihr über die Lage vor Ort gesprochen – und darüber, was die Bundesregierung jetzt tun müsste.

Ist das realistisch?
Deutschland hat die Kapazitäten und die Mittel, mit gutem Beispiel voranzugehen und diese Menschen sehr zügig aufzunehmen. Umgekehrt bedeutet das aber auch: Von den rund 11 000 Menschen, die bereits von der polnisch-belarussischen Grenze in Deutschland angekommen sind, darf niemand zurück nach Polen abgeschoben werden. Ihnen droht, pauschal inhaftiert oder nach Belarus abgeschoben zu werden.

Theoretisch könnte Deutschland natürlich auch rechtliche Schritte einleiten und darauf drängen, dass Polen die Menschenrechte und EU-Recht einhält.

Theoretisch?
Ja. Ich gehe nicht davon aus, dass Deutschland das tun wird. Die Bundesregierung hat bereits Unterstützung für Polen angekündigt und sich ganz klar gegen sogenannte Sekundärmigration positioniert. Das bedeutet, dass sie an dem Konzept »Grenzschutz« festhält. Und das beinhaltet leider auch die polnische Praxis.

Sie selbst haben zwischen 2016 und 2018 Rechtsberatung für Geflüchtete auf einer griechischen Insel angeboten. War die Situation dort vergleichbar?
Eine wiederkehrende Frage an allen EU-Außengrenzen ist der Zugang zum Recht. Es hängt vom Glück ab, ob man Zugang zu einer Rechtsanwältin oder einem Rechtsanwalt bekommt und ob die dann auch tatsächlich für einen tätig werden. Auch der Zugang zu humanitärer und medizinischer Versorgung in den Lagern ist an anderen Grenzen vergleichbar – vergleichbar schlecht. Es gibt jedoch einen signifikanten Unterschied: Überall, an jeder anderen Außengrenze, habe ich mit Geflüchteten direkt gesprochen. In Polen befinden sich die Schutzsuchenden entweder in der Sperrzone oder in den Haftlagern, und zu beidem haben wir keinen Zugang bekommen. Ich konnte nur per Telefon Kontakt aufnehmen. Die Rechtsverletzungen passieren hier völlig abseits der Öffentlichkeit. Das ist wirklich ein Novum und noch mal eine Verschärfung von dem, was wir in anderen Ländern gesehen haben.

War die polnische PiS-Regierung also erfolgreich mit ihrer Strategie, rechtsfreie Räume zu schaffen, in denen die Öffentlichkeit keinen Zugang hat?
Wo man Öffentlichkeit verdrängt und Solidarität kriminalisiert, kann natürlich niemand Zeuge von Menschenrechtsverletzungen werden. Das machen Staaten absichtlich. Wie wir gehört haben, passiert das auf allen Ebenen, selbst in den Schulen. Uns wurde erzählt, dass das Militär in die Schulen geht und Kindern Geschichten darüber erzählt, dass Geflüchtete gefährlich sind. Bei einer Pressekonferenz im letzten Jahr haben Minister*innen der polnischen Regierung der Bevölkerung Bilder gezeigt und behauptet, Geflüchtete würden Kinder vergewaltigen. Das war natürlich alles fake.

Offensichtliche Propaganda.
Ja. Und es gibt diese Propaganda von polnischer Seite, aber natürlich auch von belarussischer. Die größten Leidtragenden sind die Geflüchteten, die im schlimmsten Fall deswegen sterben.

In dem Zusammenhang mit der Situation an der polnisch-belarussischen Grenze sagten Politiker*innen oft: Wir müssen die Menschenrechte wahren – und wir müssen die EU-Außengrenzen sichern. Ist das ein Widerspruch beziehungsweise ist das gleichzeitig nicht möglich?
Für mich hat diese Argumentationskette keine Logik. Erstens: Wir haben keine Bedrohung unserer Grenzen. Es sind Menschen, die kommen, es sind keine Panzer, die hier einrollen. Zweitens: Wir haben hier eine ganz überschaubare Zahl von Menschen, die an der Grenze festsitzt. Das ist kein Verteidigungsfall, das ist keine Rechtfertigung für Notstandsgesetze und Sperrgebiete. Statt die EU-Grenzen abzuschotten, sollte man auf politischer Ebene dafür sorgen, dass die Menschen an der Grenze Zugang zu einem fairen Asylverfahren bekommen. Seit 2015 ging es in Europa immer nur um Migrationsverhinderung. Noch nie hat es den Versuch gegeben, ein System für funktionierende Asylverfahren zu etablieren. Es ist an der Zeit, dass man das versucht.

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