- Kultur
- Kolonialismus
»Ich wollte zeigen, was es bedeutet, Mitläufer und Mittäter zu sein«
Katharina Döbler hat einen Roman über die Südsee-Kolonialgeschichte ihrer Familie verfasst - ein Gespräch
Ihre Großeltern gingen als Missionar*innen nach Kaiser-Wilhelms-Land, das heutige Papua-Neuguinea. Sie beschreiben in Ihrem neuen Roman drei Generationen sowie die großen Themen Schuld, Täterschaft und das Verschweigen ebendieser. Was war für Sie der Auslöser?
Es gab keinen Initialmoment, die Zeit war einfach reif. Ich habe die Figuren aus meinen Vorfahren entwickelt. Lange Zeit wollte ich mit meiner Familiengeschichte nichts zu tun haben, aber durch meine journalistische Arbeit wurde mir klar, wie viel sie mit der Weltgeschichte zu tun hat. Und dass es mein Erbe ist, sie zu erzählen.Ich habe vor mehr als sieben Jahren mit der Recherche angefangen. In der Generation meiner Eltern waren bereits viele tot, und mir wurde bewusst: Es geht nur noch jetzt, die Sachen zu fragen. Also habe ich die Zähne zusammengebissen und angefangen zu graben.
Wie sind Sie dabei vorgegangen?
Ich habe auf Grundlage von Familienbriefen mit der Suche angefangen. Damals wurde alles per Brief geregelt, zumal aus Neuguinea, von wo die Post mit sechs Wochen oder zwei Monaten Abstand in Deutschland ankam. In diesen Briefen wurde im Detail alles beschrieben, sowohl der Alltag als auch politische Geschichten, und es existieren auch viele Fotos.Ich habe im Missionsarchiv gewühlt, wo ich auf Informationen gestoßen bin, die nicht mit der offiziellen Familiengeschichte zusammenpassten. Also habe ich immer wieder nachgefragt, speziell bei meiner Mutter und meiner Tante, aber auch in der weitläufigen Verwandtschaft. Und ich bin erneut auf Widersprüche gestoßen: In meiner Familie »gab es keine Nazis«, aber als ich das Bundesarchiv anschrieb, stellte sich das als Lüge heraus.
Wieso haben Sie bei dieser Materialfülle kein Sachbuch, sondern einen Roman geschrieben?
Das war ein Prozess. Als Journalistin habe ich zunächst dokumentarisch gedacht, aber ich habe eben auch Lust am Fabulieren. Erst wollte ich das Buch mit einem fiktionalen und einem dokumentarischen Teil versehen, doch das hat nicht funktioniert. Ich habe mich dann für die fiktionale Erzählweise entschieden und die Ich-Figur dazuerfunden, die mich spiegelt und als Gegenfigur funktioniert. Ich wollte aus Sicht der überzeugten Missionare schreiben. Gleichzeitig war das so fremd und unangenehm, dass ich das auffangen musste. Deswegen gibt es eine Zweigleisigkeit.
Warum ist die Ich-Erzählerin für Sie als Korrektiv so relevant?
Ich brauchte einerseits eine Figur, die den Gegenwartsblick vertritt, und andererseits eine, die erzählerisch die Fäden in der Hand hält wie bei einem Bündel Luftballons. Sie ist die Gegenfigur, die auf eine andere Weise ideologisch verengt ist: Sie blickt nicht einfach von der Gegenwart auf die Vergangenheit, sondern hängt selbst in ihrer Weltanschauung fest.
Stichwort Weltanschauung: Wie sehr war bei den Missionar*innen völkisches Denken mit dem Christentum verknüpft?
Da gab es eine Menge Verbindungen. Im Nachhall meines Buches kam viel über Neuendettelsau, die fränkische Gemeinde, in der die Missionsgesellschaft ihren Sitz hat, ans Licht. Ich bin in Kontakt mit einer Forscherin, die in Australien lebt und über die dortigen Archive sehr viel herausgefunden hat, zum Beispiel über die Verbindung der Mission mit der NSDAP.In Papua-Neuguinea gab es eine sehr lebhafte Nazi-Zelle. In meiner Familie hieß es, »Wir guten Christen waren immer Nazi-Gegner!«, und auch Neuendettelsau hat nie etwas eingeräumt. Dabei wählte in der Gemeinde schon 1929 die Mehrheit NSDAP, und man hat früh versucht, Juden fernzuhalten; 1933 wurde zudem eine »Hitler-Eiche« gepflanzt. Die ganze Führungsriege der Mission war in der NSDAP.
Beidem gemein ist auch das Denken in Volksgemeinschaften - ganze Völker werden in das »Reich Gottes« überführt. In der Neuendettelsauer Mission war ein protestantisch-reaktionäres Milieu mit völkischem und kolonialistischem Denken verbacken: herrschende Völker, niedere Rassen. Wenn man diese grauenhafte, mörderische Logik zu Ende denkt, ist es relativ konsequent, dass ausgerechnet die Christen Kolonialismus »im Auftrag Gottes« betrieben haben. Sie haben hierarchisch und rassistisch und gemeinschaftlich gedacht.
In »Dein ist das Reich« ist der Glaube aber nicht für alle Protagonist*innen die alleinige Motivation, sich für ein Leben als Missionar*innen zu entscheiden.
Aus heutiger Sicht waren das auch Wirtschaftsflüchtlinge. Nur gab es halt Kolonien. Für Kinder aus dem armen bäuerlichen oder kleinbürgerlichen Milieu bedeutete die Arbeit für die Mission Aufstieg und Bildung.Aber Marie im Roman will gar nicht in die Südsee, sie will selbst etwas werden, doch sie hat keine Möglichkeit und wird zur ungewollten Ehe überredet. Bei den anderen geht es auch darum, jenseits der Enge zu Hause ein eigenes Leben aufzubauen. Es ist eine Migrationsgeschichte, nur eben mit kolonialer Zeitgeschichte im Hintergrund.
Sie schildern die Geschichte aus der Sicht der Kolonisator*innen. Haben Sie auch darüber nachgedacht, den Papua eine Stimme zu geben?
Ich habe es versucht und zwischendurch zwei Einheimische als Erzählfiguren entworfen. Ich habe aber bemerkt, dass ich das nicht kann. Ich hatte von Anfang an die Absicht, aus der Sicht meiner Protagonisten zu schreiben, ich wollte in der Erzählhaltung nicht schlauer sein als die Figuren selbst. Hätte ich neuguineische Protagonisten eingeführt, wäre alles, was ich aus ihrer Sicht schreibe, eine Projektion meines weißen Kopfes, also eine koloniale und kulturelle Aneignung. Aus Gesprächen weiß ich - das ist auch angedeutet im Roman -, dass sie oft genau das sagten, was die Weißen hören wollten. Es gibt wenig Möglichkeiten herauszufinden, was sie wirklich dachten, ich kann das nicht beurteilen.Es ging mir aber auch darum, Kolonialismus aus der Sicht von Leuten zu erzählen, die ihn uneingeschränkt gut fanden. Und das betrifft natürlich auch die Nazi-Zeit. Ich wollte transparent machen, was es bedeutet, Mitläufer und Mittäter zu sein. Man ist im eigenen Zeitgeist, der eigenen Beschränktheit verhaftet und glaubt, dass das, was man tut, richtig sei. Leserinnen und Leser sollen sich darin auch wiedererkennen.
Wie sind Sie sprachlich vorgegangen? Wie kann man die Kolonialisierung authentisch darstellen, ohne Begriffe oder Denkweisen der damaligen Zeit zu sehr zu reproduzieren?
Ich habe es ja zum Teil reproduziert. »Die Eingeborenen sind faul«, solche Axiome hatten die Leute damals. Beim Lesen zuckt man hoffentlich zusammen. Die echten Dokumente zu lesen, war sehr unangenehm, weil das Sprechen und Denken damals so wahnsinnig beleidigend war. Einige Sachen habe ich auch anders formuliert. Ich hatte heftige Diskussionen mit meiner Tochter, weil man bestimmte Wörter nicht mehr benutzt. An vielen Stellen habe ich das nicht gemacht - manchmal aber trotzdem, weil es teilweise notwendig war.Dafür brauchte ich auch die Ich-Figur, um die Großeltern zu spiegeln. Zum Beispiel kann ich mich an Sätze in meiner Kindheit erinnern wie: »Von allen Rassen sind mir die Papua am liebsten«, was ich auch im Buch zitiere. Für meine Großmutter waren die Weißen keine »Rasse«, das waren nur die anderen. Diese »Rassenfrage« haben meine Eltern mit ihrer Nazi-Erziehung noch mal anders gesehen. Man muss nah hinsehen, um sich von geistesgeschichtlichen, aber auch popkulturellen Prägungen zu lösen.
Waren Sie jemals in Neuguinea?
Nein. Ich wollte hin, nachdem die Rohfassung fertig war, ich hatte ein Stipendium und alles organisiert - und dann kam Corona. Aber ich habe immer noch den Wunsch, auch um meine Verwandtschaft zu finden. Das Kind, das im Buch erwähnt wird (einer der Missionare zeugt ein Kind mit einer Papua-Frau, Anm. d. Red.), gab es wirklich. Es muss 1918/19 geboren sein, und sehr wahrscheinlich existieren Nachfahren oder zumindest eine Oral History, denn diese Geschichten halten sich in der Überlieferung. Es müsste Spuren geben. Und vielleicht entsteht daraus auch ein neues Buch. Dieses Mal aber wäre es ein Sachbuch.
Katarina Döbler: Dein ist das Reich. Claassen, 480 S., geb., 24 €.Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.