Die Toleranz nach dem Morden

Das westafrikanische Sierra Leone hat sich nach dem Ende des Bürgerkriegs gewandelt. Auch die Religionen setzen auf Versöhnung

  • Felix Lill, Freetown
  • Lesedauer: 8 Min.
Der FC Johansen gilt als Symbol für den Frieden. Kurz nach dem Kriegsende wurde der populäre Klub aus Freetown als Sozialprojekt für obdachlos gewordene Jugendliche gegründet.
Der FC Johansen gilt als Symbol für den Frieden. Kurz nach dem Kriegsende wurde der populäre Klub aus Freetown als Sozialprojekt für obdachlos gewordene Jugendliche gegründet.

Kemoh Sesay steht am Rande eines Fußballspiels und blickt nervös auf den Platz. Mit dem rechten Schuh kickt er in den Sand unter sich, wenn ein Spieler auf dem Feld den Ball abgeben müsste. Bei Fehlpässen verzieht er schmerzhaft das Gesicht. Als Fans seiner Mannschaft von der Tribüne aus singen, summt er die Melodie nach. Dabei wollte er sich zu vermeintlich schweren Themen äußern: «Woran glauben Sie?», wurde er gefragt. «Wie ist es in Ihrer Familie?» Und: «Gibt es auch mal Konflikte?»

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Es sind Fragen, die hier auf der Hand zu liegen scheinen. In Kemoh Sesays Heimatland Sierra Leone teilt sich die Bevölkerung vor allem in Muslime und Christen. Zudem sind nach einem brutalen Bürgerkrieg, der vor zwei Jahrzehnten ein viel zu spätes Ende fand, noch heute nicht alle Wunden verheilt. Und der Fakt, dass sich der Fußballklub FC Johansen, für den Kemoh Sesay als Pressesprecher arbeitet, als Symbol für den Frieden versteht, drängt ebenso die Vermutung auf, dass andere Institutionen für weniger friedliche Dinge stehen.

Glauben ist Privatsache

Aber auch wenn Kemoh Sesay die Fragen rund um Religion sehr wohl verstanden hat: So richtig darauf eingehen will er nicht. «Mein Vater ist Muslim. Meine Mutter ist Muslimin. Ihr Bruder ist Christ», erzählt er beiläufig. Das gerade laufende Stadtderby in Freetown zwischen seinem FC Johansen und dem Rivalen Central Parade macht ihm mehr Sorgen. «Meine Familie ist eigentlich christlichen Ursprungs. Aber das interessiert niemanden so wirklich.»

Und das sei auch dann der Fall, wenn gerade kein Fußballspiel laufe. Plötzlich ruft Kemoh Sesay wütend auf den Platz. «Da war nichts!» Nur in eine Richtung pfeife dieser Schiedsrichter, mosert er. Eben wurde ein Spieler aus Sesays Truppe, die sich kurz nach dem Bürgerkrieg als Sozialprojekt für obdachlose Jugendliche gründete, zurückgepfiffen. Freistoß für den Gegner.

Als Sesay sich nach dieser vermeintlichen Benachteiligung wieder beruhigt hat, sieht er sich zu einer Erklärung genötigt: «Fußball ist in Sierra Leone eine richtig heiße Sache. Die Leute sind verrückt danach. Niemals könnte man einfach so seinen Klub wechseln. Seine Mannschaft hat man sein Leben lang.» Bei der Konfession sei das anders: «Die Sache des Glaubens ist deine private Entscheidung, sobald du erwachsen bist. Mit meiner Tochter halte ich es so wie meine Eltern mit mir: Wenn ich Christ werden wollte, wäre das für niemanden ein Problem.»

Ist in Sierra Leone, einem acht Millionen Einwohner zählenden Land an der Küste Westafrikas, Fußball die eigentliche Religion? Die These, dass der Glaube an Bedeutung verliert, gibt es in vielen Ländern. Und dass der Fußball hier der beliebteste Sport ist, zeigt sich nicht nur im Stadion des populären FC Johansen. Derzeit nimmt Sierra Leone zum ersten Mal seit einem Vierteljahrhundert am Afrika-Cup teil und ist mit zwei Unentschieden ins Turnier gestartet. Trotz Pandemie und geschäftigem Arbeitsalltag sind die Straßen von Freetown voll mit Menschen, die auf kleinen Fernsehern und großen Leinwänden bei den Spielen ihrer Nationalmannschaft mitfiebern.

Aber der Sport muss in Sierra Leone keine religiöse Lücke schließen, die eine zunehmende Konfessionslosigkeit hinterlassen hätte. Die Bevölkerung ist sehr wohl gläubig. Rund 60 Prozent sind muslimisch, 30 Prozent christlich. Zehn Prozent folgen animistischen Ideen. Und mit einem Alphabetisierungsanteil von kaum 40 Prozent wäre ein oft hergestellter Zusammenhang zwischen hoher Bildung und dem Bedarf nach postreligiöser Orientierung fraglich. Zumal dann, wenn man Kemoh Sesay weiter hört. «Die Christen laden uns manchmal in die Kirche ein. Wir laden sie in die Moschee ein. Wir leben zusammen und haben Verständnis füreinander.»

Dieses Statement würde wohl überall auf der Welt erstaunen. Hier aber besonders. Als vor 20 Jahren, am 18. Januar 2002, der damalige Präsident Alhaji Ahmad Tejan Kabbah den Bürgerkrieg von Sierra Leone für beendet erklärte, hatte das Land elf Jahre Chaos hinter sich. Während wohl alle kriegerischen Konflikte auf irgendeine Weise sinnlos sind, war es der in Sierra Leone in beeindruckendem Maße. Denn hätte es im benachbarten Liberia keinen Putschisten namens Charles Taylor gegeben, wäre es wohl auch in Sierra Leone friedlich geblieben.

Ende der 80er Jahre hatte Taylors Kampf in Liberia begonnen, weniger aus ideologischen oder politischen Gründen, denn eher wegen persönlicher Fehden und dem Willen nach Einfluss. Als Taylor und seine Truppen frisches Geld brauchten, um ihren Kampf weiter zu finanzieren, wurden sie auf das nordwestlich gelegene Nachbarland aufmerksam. Dort waren nämlich reichlich Diamanten zu finden. So expandierte Taylors Feldzug ab 1991 nach Sierra Leone.

Über die Jahre ging jedes Maß verloren. Die Rebellengruppen, die gegen die Regierung und zivile Kräfte kämpften, machten früher oder später sogar Kinder zu Soldaten. Sie schossen auch auf Minderjährige, um den Widerstand der etablierten Kräfte zu vergelten. Erst durch das Eingreifen internationaler Truppen endete der Krieg. Die Bilanz nach elf Jahren: Um die 70 000 Todesopfer, 2,6 Millionen Menschen hatten ihr Zuhause verloren, noch mehr wurden verwundet.

Dass heute alles gut sei, würde niemand behaupten. Jahrelang ging kaum ein Kind zur Schule, bis heute zählen die Vereinten Nationen Sierra Leone zu den am wenigsten entwickelten Ländern der Welt. Doch anders als in zahlreichen Ländern mit junger Konfliktgeschichte, die sich in Christen und Muslime aufteilen, gehört Religion hier nicht zu den Konflikten.

Im Gegenteil: Die Konfessionen bilden Brücken, die Menschen zusammenbringen. Julius Maada Bio etwa, der Präsident von Sierra Leone, ist Christ, seine Frau Fatima ist Muslimin. Geheiratet hat das Paar nach den Bräuchen beider Religionen. Diese Tradition der interkulturellen Hochzeiten ist ein Brauch, der gepflegt wird. Und er trägt offenbar dazu bei, dass die Menschen gar nicht auf die Idee kommen, sich aufgrund des Gottes, den sie anbeten, anzufeinden.

So sagt es auch Ransford Wright. Einige Kilometer vom Eastend in Freetown, wo Kemoh Sesays FC Johansen Fußball spielt, sitzt Wright in einem Büro. Der Chef des Radiosenders BBN - Believers Broadcasting Network, auf Deutsch: Sendeanstalt für Gläubige - wundert sich selbst immer wieder. «Wir senden Inhalte, die sich viel um die Botschaft der Erlösung durch Jesus Christus drehen. Eine unserer beliebtesten Sendungen ist ein Beratungsprogramm, wo die Menschen mit ihren Problemen anrufen.» Häufig komme es vor, dass sich Hörer in der Sendung als Muslime outen. «Sie hätten dies und jenes gehört und würden gern mehr wissen, erklären sie dann.» Was eigentlich auch kein Wunder sei. Schließlich machen Wright und seine Kollegen immer wieder klar, dass die Probleme, die dort besprochen werden, nicht unbedingt religiöser Natur seien. «Unser Sender ist für alle da.» Zwar stehen die Kirchen und Moscheen irgendwie in einem Konkurrenzverhältnis zueinander. «Aber wir achten drauf, uns nicht in die Quere zu kommen.»

Toleranz als Stärke

Ist Sierra Leone damit ein Vorbild für die Welt? «Die Toleranz ist tatsächlich unsere Stärke als Nation», sagt auch Ahmed Nasrallah, wiederum einige Kilometer weiter Richtung Stadtzentrum von Freetown. Im ersten Stock eines kleinen Gebäudes an einer lauten Straße, hinter einem mit Büchern und Magazin vollgeräumten Schreibtisch, redet er gegen den urbanen Lärm an. «Der Bürgerkrieg hat natürlich viele Spuren hinterlassen. Aber er war nie von Religion getragen. Das, was geblieben ist, sind vor allem ökonomische Probleme. Den jungen Menschen fehlen gute Jobs, das sorgt für latente Unruhe.»

Ahmed Nasralla, Vorsitzender des sierra-leonischen Journalistenverbands und ein oft gefragter Kommentator im Land, ist selbst Christ. Aber das tue nicht zur Sache. Im Wunsch nach Frieden findet man in den religiösen Unterschieden gern Gemeinsamkeiten. «Wir haben ja muslimische und christliche Radiosender, aber die politischen Themen werden da nicht aus religiöser Perspektive diskutiert. Das ist Teil unserer Tradition und Kultur.»

«Mit dem Willen Gottes»

Das lockere Verhältnis zu Religion kann auch in kritischen Situationen nützlich sein, findet Ann-Marie Jah-Kabba. Die deutsch-sierra-leonische Radiologin ist Muslimin und arbeitet im Connaught Hospital, dem führenden Krankenhaus im Herzen der Hauptstadt. Kurz nach einer Behandlung nimmt sie auf einer hellen Couch in ihrem Büro Platz. «Wenn hier jemand sterbenskrank ist, oder auch in jeder anderen Situation, kann man mit den Leuten auf eine religiöse Weise sprechen. Egal, ob die Person jetzt muslimisch, christlich oder was anderes ist.»

Ann-Marie Jah-Kabba wuchs in Dortmund und Hamm auf, begann in Deutschland ihre Karriere als Ärztin. Wenn sie dort gut gemeinte Sätze mit religiösem Kontext sagte, stieß sie eher auf Ablehnung. «Ich erinnere mich an eine Situation in Deutschland, als ich zu einem Patienten am Ende der Behandlung ›mit dem Willen Gottes‹ sagte. Da antwortete er nur: ›Nein, Gott brauchen wir nicht.‹» Weil dies in Sierra Leone anders sei, zog sie vor einigen Jahren mit ihrem Mann hierher. «Ich wollte, dass meine Kinder in einem Land aufwachsen, wo Gott nicht aus dem öffentlichen Leben gedrängt, sondern geschätzt wird.»

Tatsächlich ist Sierra Leone in Westafrika für seine friedliche Koexistenz der Religionen bekannt. Wobei das auch nicht nur gute Seiten hat, findet Ann-Marie Jah-Kabba. Sie würde sich oft mehr Ernsthaftigkeit wünschen. «Manchmal habe ich den Eindruck, viele Menschen wissen gar nicht wirklich, wie sich zum Beispiel Islam und Christentum voneinander unterscheiden.» Man solle schon wissen, warum man eine bestimmte Religion hat. «Die Flexibilität sollte ja nicht so weit reichen, dass man nicht mehr weiß, worum es im eigenen Glauben überhaupt geht.

Immerhin werde Religion hier kaum der Auslöser eines neuen Krieges sein, sagt Ahmed Nasralla, der Vorsitzende des Journalistenverbands: »Die Toleranz nach all den zerstörerischen Jahren beeindruckt mich immer noch. Und glücklicherweise haben wir Strukturen, die dies aufrechterhalten. Es gibt den Interreligiösen Kongress, wo die Religionen vertreten sind. Und wenn es eine schwierige Situation im Land gibt, kommen sie zusammen und versuchen zu schlichten.« Eher noch als durch Glaubensfragen, das vermutet auch Ahmed Nasrallah, kriegen sich die Menschen hier wegen Fußball in die Wolle.

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