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Die Banalisierung von Auschwitz
Es ist schockierend, mit welcher Selbstverständlichkeit Impfgegner*innen und Corona-Leugner*innen Vergleiche mit dem Holocaust ziehen
»Impfen macht frei«. Unverkennbar stellt das Schild den Bogen über dem Eingangstor des ehemaligen KZ-Stammlagers Auschwitz dar. Getragen wurde das Schild von einem Demonstranten am 22. Januar in Graz bei einer Demonstration der Impfgegner*innen und Corona-Leugner*innen.
Es ist ein besonders zynisches Beispiel. Wie lange hat sich die Person hingesetzt, abgepaust, gebastelt, ausgeschnitten und die Buchstaben fein säuberlich nachgezogen? Sitzt man da einen halben Nachmittag am Esstisch der Doppelhaushälfte und malt das Tor von Auschwitz ab? Während am Ultra-HD-Bildschirm die Vorberichterstattung zum Hahnenkamm-Rennen läuft und der Mond-Kräuter-Tee (Mit durchgestrichenem Barcode auf der Verpackung, man möchte ja nicht getrackt werden.) in der Küche zieht? Leise summt man irgendwas von Bergbauern-Buben, die besser sind als die verweichlichten Stadtmänner. Vom gerade heute frisch gelieferten Zeitschriftenabo lacht eine bekannte Schauspielerin, die weder Sexismus noch Corona für real hält. Und schon ist man dabei, das »r« von »frei« auszumalen. Ein ganz normaler Nachmittag bei ganz normalen Menschen.
Diese Verwendung von Auschwitz hat zwei Ebenen, die im selben Maße zynisch sind. Auschwitz wird von einer historischen Begebenheit zur Chiffre. Es geht nicht mehr (nur) um das, was real geschehen ist und für was dies steht – den millionenfachen industriellen Massenmord an den europäischen Juden und Jüdinnen. Auschwitz wird zum sprachlichen Maximalismus für jedes Ungemach.
Damit einher geht pure Verachtung für die Opfer, die in Scheinempathie durch Vergleich dargestellt wird. Es ist nicht mehr die Leugnung der Shoah und des Holocausts, ja nicht einmal die Relativierung, die auf dem Fuße durch Vergleiche mit anderen Massakern folgt – es ist die Banalisierung und Nivellierung. Banalitäten werden auf eine Stufe mit der millionenfachen, geplanten und durchgeführten Vernichtung von Menschen gestellt. Eine rettende Impfung bekommt den Status der Gaskammern von Auschwitz. Das ist so abenteuerlich ekelhaft, dass man in schierem Entsetzen verharren möchte.
Doch das genügt nicht. Nicht nur, aber gerade in diesen Tagen ist es wichtig, an die Schrecken von Auschwitz und allen anderen Lagern zu erinnern. Es gibt keine Möglichkeit, die Berichte der Überlebenden abzumildern und gerade deswegen soll und muss man sie lesen. Wenig in meinem Leben hat mich so erschüttert, wie etwa die Berichte von Henryk Mandelbaum, der beschreibt, wie er als Teil des Sonderkommandos die Gaskammern ausgeräumt und die Leichen verbrannt hat. »This was a machine, a factory, a factory of death. A giant of death. The end.« (»Es war eine Maschine, eine Fabrik, eine Fabrik des Todes. Ein Gigant des Todes. Das Ende.«)
Auschwitz ist ein realer Ort mit realen Verbrechen und realen Opfern und Tätern. Den Opfern den Opferstatus wegnehmen zu wollen und den Ort zu entkontextualisieren, reiht sich in eine lange Tradition des Antisemitismus ein, die die Opfer zu Tätern und die Täter zu Opfern macht. Nur aus dieser Logik ist es zu erklären, dass man sich auf Grund einer Impfpflicht in eine Reihe mit den Millionen Opfern des Holocaust und der Shoah stellt.
Es ist schockierend, mit welcher Selbstverständlichkeit dieser neue-alte Antisemitismus zurückkommt, wie er nicht nur tolerierter, sondern integraler Bestandteil dieser Demonstration ist. Gleichzeitig nutzt sich die öffentliche Empörung über ihn rasch ab. Ob »Judensterne« oder der Auschwitz-Vergleich: Beim ersten Mal sorgt es für Aufsehen, nach dem hundertsten Vorfall gibt es nur noch ein Schulterzucken. Wir alle sind es den Opfern und den Überlebenden aber schuldig, nie mit Apathie auf die Verhöhnung dessen, was war, zu reagieren.
Niemals wieder. Und niemals wieder heißt auch keine Banalisierung, keine Nivellierung des realen Horrors. Es heißt, sich denen entgegenzustellen, die dies wie selbstverständlich tun.
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