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Reihenweise sexuelle Übergriffe beim Arzt
Unter dem Hashtag #frauenbeimarzt teilen derzeit Frauen und weiblich gelesene Personen ihre Erfahrungen zum Thema sexuelle Übergriffe bei ärztlichen Untersuchungen
Manchmal kann ein Hashtag nicht nur eine allgemeine Diskussion zu einem bestimmten Thema entfachen, sondern auch als eine Art Datenerhebung verstanden werden. So der Fall am 14. Januar, als die österreichische Twitteruserin @Joanalistin den Hashtag #frauenbeimarzt ins Leben rief, um sexualisierte oder erniedrigende Erfahrungen von Frauen und weiblich gelesenen Personen beim Arztbesuch sichtbar zu machen. Die Resonanz ist so überwältigend, dass das Thema derzeit vermehrt auch von Medien und Frauenrechtsorganisationen aufgegriffen wird. Immer noch diskutieren User*innen über die Resultate und zeigen sich schockiert.
Um eine Sache vorwegzunehmen: Das Sprech- beziehungsweise Behandlungszimmer eines Arztes oder einer Ärztin ist ein geschützter Raum. Dort werden vertrauliche Dinge besprochen, die sogar rechtlich geschützt sind, mit der sogenannten ärztlichen Schweigepflicht. Arzt*innen genießen aufgrund ihres Berufes auch eine gesellschaftlich hohe Autorität, auch das fördert eine gewisse Machtdynamik mit dem oder der Patient*in. Was passiert, wenn diese missbraucht wird, kann in den Antworten unter #frauenbeimarzt nachgelesen werden.
Das Internet ist voller Debatten, Aufregung und Absurditäten. Jeden Donnerstag schauen wir uns die bizarrsten, lustigsten oder wichtigsten Momente im Netz an. Ob hitzige Diskussion auf Twitter oder lustiger Trend auf TikTok: In unserer Rubrik »Aus dem Netz gefischt« greifen wir es auf. Texte zum Nachlesen: dasnd.de/gefischt
Fast 1000 Menschen retweeteten den Post von @Joanalistin, mehr als 250 kommentierten ihn. Viele der Antworten schildern unschöne Erfahrungen. Bei einigen handelt es sich um übergriffige oder unangebrachte Kommentare, wie »Sie haben aber schöne Brüste«. Andere Frauen berichten, dass sie schlichtweg nicht ernst genommen werden. Mehrere Betroffene berichteten, dass ihnen bei starken Schmerzen entweder harmlose Schmerzmittel a là Ibuprofen verschrieben, oder das Problem direkt als psychosomatisch abgestempelt wurde. Diese Art von Umgang kann daran liegen, dass Frauen ihre Schmerzen oft nicht geglaubt werden oder ihnen zumindest ein höhere Schmerztoleranz zugeschrieben wird - auch als Gender Pain Gap bezeichnet. Im binären (also nur cis und zweigeschlechtlichen) Geschlechterverständnis gelten cis Frauen oft noch immer als empfindlich und hysterisch. Hystéra ist übrigens griechisch für Gebärmutter.
Bei #frauenbeimarzt berichteten besonders häufig gebärende Personen von Gewalt bei der Geburt. Und damit nicht genug: Einige Patient*innen veröffentlichten sexuelle Übergriffe oder sogar Gewalt. Das reicht von anzüglichen Kommentaren, unnötiger Entkleidung für eine Behandlung hin zu übergriffigen Berührungen. So wurden beispielsweise die Schulterschmerzen von Antonia P. von ihrem Orthopäden mit einem Vaginal-Touché behandelt. Das ist eine Steißbeinbehandlung der Frau, bei der man vaginal mit den Fingern in die Frau eindringt.
Ihrem Arzt zufolge ist das eine gängige Behandlungsform. Fraglich bleibt bei dieser Geschichte dennoch, ob sich männliche Ärzte überhaupt im Klaren sind, wie übergriffig eine solche körperliche »Behandlung« sein kann. Anzügliche Bemerkungen sind ebenso traumatisierend. Eine Userin schrieb: »Mein erster Besuch beim Frauenarzt war bei einem alten Gyn. War da 17 und während der Untersuchung sagte er 'Sie sind ja noch sehr eng, mögen Sie kein Sex?' Seitdem wollte ich nie wieder zu einem männlichen Gynäkologen hin.«
Auch andere gesellschaftliche Diskriminierungsformen, die oft, aber nicht ausschließlich Frauen betreffen, wurden geschildert. Etwa Bodyshaming, also der Vorwurf, zu fett zu sein und damit eine gewisse eigene Schuld für die körperlichen Probleme oder unerfüllten Kinderwünsche zu tragen.
Glücklicherweise ließen sich unter dem Hashtag auch Positivbeispiele finden. Eine Userin berichtete von einer Untersuchung im vergangenen Jahr, bei der der Arzt sie im Vorhinein fragte, ob er sie berühren darf. Ihre Reaktion darauf: »Da habe ich fast zu weinen angefangen, denn das hat mich noch nie ein Arzt, eine Ärztin gefragt.« Eine andere Person antwortete ihr, dass ihre Gynäkologin bei der Behandlung alles erklärte und zur Verblüffung ihrer Patientin sich sogar entschuldigte, wenn es unangenehm wurde.
Das zeigt, dass sich natürlich nicht alle Ärzt*innen über einen Kamm scheren lassen. Vielmehr scheint es an dem Verständnis von körperlichen und emotionalen Grenzen sowie dem eigenen Handlungsspielraum als Arzt zu liegen, der im absoluten worst case dann zu übergriffigen Untersuchungen, wie bei #frauenbeimarzt beschrieben, führen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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