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Der Himmel ist jetzt ein Aschehaufen
Leben wie ein Möbelstück, aber das tut sehr weh: »Heaven« von Mieko Kawakami
Der Himmel wurde nicht nur im Schlager und in der Popmusik hundertfach besungen, die Frage nach dem Jenseits zu unserem Diesseits bewegt Menschen schon seit Jahrtausenden. Ob es ihn nun gibt oder nicht - das erfährt keiner zu Lebzeiten. Umso größer scheint die Bedeutung eines sogenannten »Himmels auf Erden«, der entworfen, angestrebt, abgesteckt und dem beizeiten auch wieder abgeschworen wird.
Dass ausgerechnet die Schülerin Kojima ein solches Paradies gefunden haben möchte, das erstaunt den namenlosen Ich-Erzähler des neuen Romans von Mieko Kawakami. Kojima ist klein, ihre Kleidung abgetragen, ihre Haare sind strubbelig und sie umgibt ein säuerliches Odeur. Kojima wird täglich aufgezogen, beschimpft und auch körperlich attackiert: »Du stinkst! Du bist eklig!«
Olga Hohmann versteht nicht, was Arbeit ist und versucht, es täglich herauszufinden. In ihrem ortlosen Office sitzend, erkundet sie ihre Biografie und amüsiert sich über die eigenen Neurosen. dasnd.de/hohmann
Sie teilt somit das Schicksal des Erzählers, dessen schielendes Auge, das immer wieder den Weg nach außen sucht, Grund für regelmäßige Misshandlungen ist. Seine Mitschüler, die alle angeheizt werden von dem charismatischen, erfolgreichen und gut aussehenden Ninomiya, schlagen und treten nicht bloß aus Affekt; sie sind geschickt, machen Pläne. Spuren als Beweise bleiben nie zurück.
Die plötzlich auftauchenden Nachrichten an ihn, kleine Briefe auf seinem Tisch, können also nur ein Missverständnis oder gar eine Falle sein. Eine neue Methode der psychischen Qual?
Als er in einer solchen handschriftlichen Note um ein Treffen gebeten wird, zögert er: »In der Stadt, in der ich wohne, gibt es eine mehrere Hundert Meter lange Allee. Durch die gehe ich zur Schule. Ungefähr auf halber Höhe führt ein Weg zu einer Art Spielplatz, Park wäre zu viel gesagt. Das war der Treffpunkt.«
»Heaven« spielt nicht wie so viele japanische Romane in den letzten Jahren in den großen Zentren Tokio oder Osaka, sondern in einer der unzähligen kleinen Städte des Landes. Da, wo Kojima und der Erzähler wohnen, gibt es anscheinend nur eine Schule, denn ein Abgang von ebenjener, um sich der Schläge zu entziehen, käme einem Abbruch gleich. Die Enge dieser Stadt wird im Verlauf immer wieder die Angst und die Not des Erzählers potenzieren.
Mieko Kawakami wählt diesen Spielort für ihren Roman bewusst: Nicht etwa die japanischen Metropolen mit ihrem entfesselten Wachstum und Fortschritt machen die Leute fertig, nein, die meist traditionsbewussteren kleinen Orte sind der wahre Hort des Vulgären und der Menschenverachtung. Wo Einzelschicksale nichts wert sind, können auch Schülerbanden frei flottieren.
Doch an diesem einen Nachmittag warten keine Peiniger und auch kein Hiebe mit einem Lineal, sondern nur Kojima. Es entwickelt sich eine Freundschaft, eine Schicksalsgemeinschaft, ein Leidensgenossentum, das bald seinen Höhepunkt erleben wird - wenn sie zusammen mit der Bahn in die nächstgrößere Stadt fahren, dort einen ausgelassenen Nachmittag erleben und ins Museum gehen. Hier hängt auch »Heaven«, ein Kunstwerk, das Kojima sehr viel bedeutet. Und dem Roman seinen Namen gibt. Ein Paradies auf Erden.
Mieko Kawakami hat hierzulande gerade erst 2020 mit »Brüste und Eier« reüssiert und gilt mit Sakaya Murata als Nachfolgegeneration zu solchen Autorinnen wie Banana Yoshimoto oder Yoko Ogawa. Murata und Kawakami eint, dass sie moderne Erkundungsfahrten in eine Gesellschaft tätigen, die Außenseiter*innen, Menschen, die aus den vorbestimmten Bahnen der immer noch sehr konservativen Gesellschaft ausscheren, konsequent ausschließt und schikaniert.
Für »Heaven« stellt Kawakami zwei der harmlosesten Figuren der jüngeren Literaturgeschichte ins Schaufenster. Beide können - und wollen - sich nicht zur Wehr setzen. Für Kojima ist der Fall klar: Wenn wir uns nicht wehren, sind wir die wirklich Starken. Unsere Leidensfähigkeit wird sie schon das Fürchten lehren. Für den Erzähler endet diese Fehleinschätzung bloß im Krankenhaus.
Allein uns Leser*innen schlottern die Knie, wenn der Ich-Erzähler uns all die Gemeinheiten und Qualen des Tages aufzählt. Er versucht hingegen, betont neutral oder jugendlich-gelassen zu bleiben. Die Sprache macht sich gar nicht erst die Mühe, klinisch, genau oder detailliert zu sein. Warum sich eigentlich wehren? Die Brutalität der Situation und der fehlende Ausweg verdienen keinen Schmuck.
Interessanterweise folgen diesem Credo auch die evozierten Bilder, die abgeschmackt, manchmal sogar sehr blass sind: »Mein Leben glich dem stillen Leben eines Möbelstücks« oder: »Das Vordergebäude sah aus wie das riesige Gerippe eines Tiers.«
Wenn man dies positiv auslegt, darf man gerne behaupten, dass Kawakami nicht daran gelegen war, einen Antihelden zu erschaffen. Der Erzähler ist kein eloquenter Dichter, kein Ausnahmetalent, sondern einer von vielen Tausend, die ein ähnliches Schicksal teilen. Die auch mal voll traumatisiert auf dem Asphalt der einen langen Allee der Stadt in die Hose pinkeln.
Klaustrophobisch geht es nur in einer Passage zu, die Enge der Kleinstadt ist dennoch in jedem Moment zu spüren. So stolpert der Erzähler eines Tages auch über einen seiner Peiniger. Die interessanteste Figur: auch so ein Adonis mit guten Noten, ein widerlicher Libertärer. Er sieht sich dem Indeterminismus verpflichtet. Die täglichen Schmerzen sind nämlich gar nicht kausal (das schielende Auge), sondern nur durch den Zufall begründet. Der Erzähler war initial am falschen Ort zur falschen Zeit. Alles andere sei egal - und laufe halt immer weiter, bis es das nicht mehr tue.
Dass ausgerechnet eine solche Figur, die man normalerweise in Houllebecq-Romanen verorten würde, den Roman vor dem Los eines »Weird Boy meets Weird Girl«-Romans rettet, ist auch nur eine weitere Besonderheit eines indifferenten und seltsamen Stücks Literatur.
Mieko Kawakami: Heaven. A. d. Japan. v. Katja Busson. Dumont, 192 S., geb., 22 €.
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