• Reise
  • Eisklettern in Kanada

Es geht auch ohne dicke Muckis

Seit Herbst dürfen Urlauber wieder nach Kanada. Ontario im Winter ist ein Traum in Weiß, auch wegen Hunderter Eiskletter-Spots. Selbst Anfänger wie unser Autor feiern in der Eiswand rasch Erfolge

  • Christian Haas
  • Lesedauer: 5 Min.

Null Grad? Klingt ja nicht besonders kalt. Doch die Dame an der Rezeption meint natürlich null Grad Fahrenheit, schließlich befinden wir uns in Kanada. Und das entspricht minus 18 Grad Celsius. Inklusive Windchill-Faktor, der auf dem Hotelvorplatz am Lake Rosseau vorherrscht, fühlt es sich noch mal frischer an. Da will man den »Equipment-Test« von Klettergurt, Steigeisen und Co. schnell rumkriegen. Doch bis jeder alles in seiner Größe beisammen hat, sind die Finger trotz dicker Handschuhe klamm - und alle froh, als der Minibus endlich startet. Und mit ihm die ersehnte Heizung.

Andererseits stellt man sich genau so Ontario im Winter vor: verschneit, frostig, abenteuerlich. Und einsam. Was nicht nur unsere Fahrt Richtung Skeleton Lake bestätigt, sondern auch die Statistiken: Die Bevölkerungsdichte des Muskoka-Distrikts nördlich von Toronto beträgt 14,7 Einwohner pro Quadratkilometer (Sachsens Quotient liegt - zum Vergleich - bei 186). Kein Wunder, die Region ist geprägt von 1600 Seen, unzähligen Flüssen, Mooren und hügeligen Wäldern. Mit 14 000 Einwohnern gilt Muskokas Hauptort Bracebridge da schon als große Stadt. Dort betreibt Peter de Mos einen Ausrüstungsladen samt Tourenbüro. Passender Name »Liv Outside«. Und »Draußensein« ist seit rund 20 Jahren auch das berufliche Motto des Holländers, wenngleich sich die heutige Aktivität nicht unbedingt als typisch holländisch bezeichnen lässt. Es geht zum Eisklettern. Mit Peter als Guide und fünf Novizen aus Übersee. Dort, in den Alpen, habe ich schon öfter Versuche gestartet, dreimal ist es wärmebedingt gescheitert. Ich musste also offenbar erst über den großen Teich, um diese Erfahrung zu machen. Gut, Temperatur und ich - wir sind bereit!

Spaß und Verantwortung

Olga Hohmann versteht nicht, was Arbeit ist und versucht, es täglich herauszufinden. In ihrem ortlosen Office sitzend, erkundet sie ihre Biografie und amüsiert sich über die eigenen Neurosen. dasnd.de/hohmann

Nach einer halben Stunde parkt Peter den Bus am Straßenrand. Alle raus - und rein in Klettergeschirr und Schneeschuhe. Seile und Karabiner, Helme, Steigeisen und Eispickel werden gepackt und dann stapfen wir durchs schneebedeckte Unterholz. Der jungfräuliche Schnee verrät: Hier war die letzten Tage keine Menschenseele. Und wir werden bis Nachmittag auch keine treffen. Peter erklärt: »Ontario ist so riesig. Allein schon in Muskoka gibt es so viele Spots zum Eisklettern. Da kommt man sich einfach nicht in die Quere.«

Stattdessen kommen wir auf eine Lichtung, die sich als zugefrorener See entpuppt. An dessen Ufer sucht Peter für unsere, aus zwei Männern und drei Frauen bestehende Gruppe ein hübsches Fleckchen aus. Mit zwei Kletterspots: einer etwa acht Meter hohen Eiswand und einer deutlich imposanteren, weil dreimal so hoch und breit. Das Erste, was wir lernen: Eisklettern muss nicht immer an gefrorenen Wasserfällen stattfinden, sondern funktioniert auch - wie hier - an überfrorenen Felswänden. Ein Umstand, der die hohe Anzahl der Spots hier erklärt.

Es ist ein Anfängerkurs, wie ihn jeder machen und auch jeder schaffen kann. Weil der 47-Jährige alles gut erklärt und uns stets via Top-Rope sichert. Was das ist? »Ich habe eine Schlaufe an einem Baum oberhalb der Felsen befestigt«, erklärt Peter. »Das in eurem Klettergeschirr befestigte Seil führt dort durch und runter zu mir, wo ich es stets auf Spannung halte. Somit sichere ich euch, falls ihr mal abrutscht.« In Kombination mit dem Helm, zwei fast rechtwinkligen Eispickeln und den Steigeisen, die mittlerweile statt den Schneeschuhen unter den Bergstiefeln befestigt sind, vermittelt das ein sicheres Gefühl. Und ist doch nur Plan B.

Plan A sieht vor, ohne Hilfe und aus eigener Kraft die Senkrechte zu bewältigen. Die Theorie erklärt Peter wie folgt: »Der Kletterer zieht sich an den über ihm ins Eis eingeschlagenen Pickeln hoch, stemmt die Füße mit den Steigeisen in das Eis und steht dann idealerweise so sicher, dass die Pickel gelöst werden können und etwas weiter oben erneut ihren Platz finden. Merkt euch die Formel: immer drei Punkte im Eis!« Die Praxis sieht jedoch so aus: Ich ramme den rechten Pickel über Kopf so fest ich nur kann ins Eis. Das knirscht, glitzernde Kristalle splittern in alle Richtungen. Der linke Pickel wird nicht weniger stark reingezimmert. Dann hau ich mit voller Wucht die Zacken am Bergstiefel in die Wand. Rutsch aber erst mal ab. Beim zweiten Versuch geht es besser. Ich stehe, verlasse mich aber lieber auf meine Arme. Schwing die Pickel Basic-instict-mäßig wieder ins gefrorene Nass. Nach einigen Abrutschern komm ich irgendwann fast oben an. Erschöpft, aber mit einem berauschenden Gefühl. Ich bin bereit für den »großen Felsen«! Dort jedoch rächt sich meine armbasierte Technik und nach zehn Minuten in der Wand, in denen ich mich fast ausschließlich an den immer öfter nicht im Eis greifenden Pickeln hochstemme, verlässt mich die Kraft und ich lasse mich von Peter abseilen. Akuter Kraftmangel.

Wie es besser geht, zeigt derweil Kattrin. Galant, den Körper immer nah am Fels, kontrollierte Bewegungen, so findet sie ihre Linie durch die Wand. Und im Gegensatz zu mir vertraut sie darauf, dass die Steigeisenzacken sie schon halten. Auch wenn es gerade mal zwei Zentimeter sind, die im Eis stecken. Als sie als Einzige aus der Gruppe oben an der XL-Wand ankommt, grinst sie mit der mittlerweile fast schon angenehm warmen Sonne (Ohne Chill-Faktor empfindet der Kletterer die minus fünf Grad so!) um die Wette. Und beweist: Auch wenn Eisklettern gern als Sport für starke Männer deklariert wird, kommt es statt auf starke Muckis vor allem auf die Technik an. Mal wieder.

- Anzeige -

Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.

Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.

Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.

Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.