Selten ein gemeinsames Lied

Marktplätze und Kampfzonen: 421 bemerkenswerte Kurzessays über »Musik und Gesellschaft«

  • Kai Köhler
  • Lesedauer: 5 Min.

Es gibt die sehr einfachen Muster: Hornsignale für Jäger in unübersichtlichem Gelände, Glockentürme als frühes Mittel der Zeitübermittlung. Und es gibt komplexe Formen, Streichquartette oder Sinfonien, die sich über eine Stunde oder mehr erstrecken können. Erstere sind unmittelbar mit menschlicher Praxis verbunden, doch auch Letztere vermitteln über Gestus und Zeitorganisation Gesellschaftliches. Die Herausgeberinnen und der Herausgeber der zwei hier vorzustellenden umfangreichen Bände haben ihr Thema mit drei Stichworten im Untertitel umrissen: »Marktplätze, Kampfzonen, Elysium«.

Ums Elysium freilich geht es kaum; Inseln der Seligen sind in der Klassengesellschaft selten zu finden. Vermutlich brächten sie auch wenig Kunst hervor und noch weniger gesellschaftliche Erscheinungen, über die zu schreiben lohnen würde. Man schaut ja dorthin, wo eine Frage ist, ein Konflikt, etwas Uneingelöstes. Die Kampfzonen spielen also eine viel größere Rolle. Ein Musiker (seltener eine Musikerin) will sich durchsetzen; ein neuer Stil entsteht, wird gefeiert und befehdet, das Alte wehrt sich; Gruppen schließen sich zusammen, haben Erfolg oder scheitern, spalten sich.

Spaß und Verantwortung

Olga Hohmann versteht nicht, was Arbeit ist und versucht, es täglich herauszufinden. In ihrem ortlosen Office sitzend, erkundet sie ihre Biografie und amüsiert sich über die eigenen Neurosen. dasnd.de/hohmann

Mittlerweise kostet Musik zumeist Geld. Das gemeinsame Lied, das die Feldarbeit erleichtern und die Bewegungen rhythmisch koordinieren sollte, ist jedenfalls in den Industrieländern selten geworden. Bereits der Hornist für die Jagd musste vom Fürsten ernährt werden; moderne Sinfonieorchester oder gar Opernhäuser sind noch viel teurer.

Indem sich die Musik von der Kirche und den Höfen löst, entstehen tatsächlich »Marktplätze«. Komponisten suchen Aufführungsmöglichkeiten, Virtuosen machen Karriere. Natürlich bleibt all dies, bis heute, staatlich oder von Mäzenen subventioniert und unterliegt schon dadurch politischem Einfluss. Und erst allmählich, vom ersten Grammophon als Beweis unerhörter Modernität über die CD bis zum Streamingdienst wird die Verbreitung marktförmig. Vorreiter ist die nicht subventionierte U-Musik, Bedingung das Entstehen eines zahlungskräftigen Massenpublikums.

Wie lässt sich das in zwei Bänden von zusammen gut 1400 Seiten fassen? In diesem Fall in 421 Kurzessays. Das erste Dutzend bringt unter der Überschrift »Aus der Tiefe von Zeit und Raum« teils grundsätzliche Bestimmungen unter Titeln wie »Was aber ist Musik?« oder zur Abgrenzungsproblematik »Musik, Geräusch, Lärm«. Es finden sich aber auch übergreifende Gedanken zu Praxisformen: »Musik zur Arbeit« oder »Musik und Musiker im Einsatz bei Folter und Hinrichtungen«.

Die Hauptteile sind dann nach Epochen oder später nach Jahrzehnten geordnet. Je einem Jahr entspricht ein Thema. Dabei gibt es im Mittelalter große Lücken, mit der Frühen Neuzeit wird die Folge immer dichter, ab 1783 hat jedes Jahr einen Eintrag. Das wirkt auf den ersten Blick mechanischer, als es wirklich ausgeführt ist. Es gibt zwar die klaren Zuordnungen, zum Beispiel die Entstehungsjahre wichtiger Kompositionen. Doch häufiger bietet ein Ereignis den Anlass zu zeitübergreifenden Betrachtungen. Zum Beispiel führt die Uraufführung dreier Werke - von Arnold Schönberg, Alban Berg und Franz Schreker - im Jahr 1912 zu der Frage, was denn überhaupt expressionistische Musik sei.

Das jüngste Jahrzehnt dann ist, mit skeptischem Fragezeichen, unter der Überschrift »Eine bessere Welt?« abgehandelt. Für diesen Zeitabschnitt ist noch völlig unklar, was sich als geschichtlich bleibend erweisen wird. Also geht es zumeist um Trends, etwa »Dirigentinnen im 21. Jahrhundert« zum Jahr 2013, »Soziale Verwerfungen im Musikleben« zu 2014 oder »Kunstfreiheit im Reich des neuen Zaren« 2019 (gibt es unter Putin natürlich nicht).

Die sozial bedingten Möglichkeiten von Frauen, einen Platz im Musikleben zu erkämpfen, werden so klug dargelegt wie für alle Beteiligten die ökonomischen Chancen, aber auch die Ausschlussmechanismen. Doch für die unmittelbare Gegenwart fehlt noch die Distanz zu linksliberalen Klischees; wer sich - warum auch immer - nicht entsprechend den westlichen Normen verhält, wird als Gegner bestimmt. Der Schlussabschnitt zum Jahr 2020 nimmt gerade noch die Coronakrise in den Blick, die zutreffend - nicht nur für alle an Musik Interessierten - auch als ökonomische Krise bestimmt wird.

Was fehlt? Eine große Lücke ist gleich zu Beginn eingestanden: Mit ganz wenigen Ausnahmen handeln die Essays Ereignisse und Entwicklungen in den Musikzentren Europas und Nordamerikas ab. Die Beschränkung ist bedauerlich, aber angesichts der Fülle des Materials, das dennoch aufzuarbeiten war, nachvollziehbar. Ohne Begründung werden auch die sozialistischen Länder von der Oktoberrevolution bis 1989 weitgehend ausgeblendet. Zusammengerechnet etwa zehn Seiten stehen 200 Seiten über das westliche Musikleben in diesem Zeitraum gegenüber - obwohl es nicht an Anlässen gefehlt hätte, die mal produktiven und mal hinderlichen Auswirkungen der realsozialistischen Kulturpolitik herauszuarbeiten.

Begrüßenswert ist hingegen, dass gezeigt wird, dass auch im ach so freien Westen die Kunst kein autonomer Bereich ist. Dies schließt Respektlosigkeiten gegenüber kanonisierten Werken und Komponisten ein. Dafür steht zum Beispiel der Beitrag von Fabian Schwinger über John Cages »4’33’’«. Dass ein Pianist über diese Spieldauer, in immerhin drei Sätzen, nichts spielt, wurde von Avantgardisten als Durchbruch zu einem ganz neuen Hören, nämlich der Stille, gefeiert. Doch stellt Schwinger zu Recht fest, dass die von Cage geforderte »Austreibung des persönlichen Standpunkts auffällig zahnlose künstlerische Resultate, wie sie das Establishment liebt«, hervorbringt. Fernab von früheren Irritationen stehe das Stück heute als »persönliche Erbauungshilfe« bereit, für das »durch permanenten Leistungsdruck geschädigte Subjekt«, das sich mit »›achtsamkeitsreduzierter Stressreduktion‹ auf seine Wiedereingliederung« vorbereite.

Dies ist nur einer von vielen gelungenen Beiträgen - dass es auch weniger gelungene gibt, bleibt bei dieser Masse nicht aus. Die beiden Bände sind kaum geeignet, von vorn bis hinten durchgearbeitet zu werden. Vielmehr laden sie zum Hineinblättern ein, erlauben aber auch eine gezielte Suche. Illustrationen veranschaulichen die Texte, von denen jeder bibliografische Angaben für vertiefende Lektüre bereithält. Bei allem Anspruch sind die Beiträge verständlich geschrieben und erschließen ein faszinierendes Thema.

Frieder Reininghaus/Judith Kemp/Alexandra Ziane (Hg.): Musik und Gesellschaft. Marktplätze, Kampfzonen, Elysium. Zwei Bände. Königshausen & Neumann, 1420 S., geb., 68 €.

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