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Aufklärer seiner Klasse
Zum Tod des letzten Chefs der Hauptverwaltung Aufklärung des MfS Werner Großmann
Ein Mann geht durch das vom Krieg schwer zerstörte Dresden. Erst seit Kurzem wohnt er in der sächsischen Landeshauptstadt, glücklich mit seiner Frau Brigitte, die gerade das zweite Kind erwartet. Der Mann ist gelernter Maurer, umso mehr bedrücken ihn die vielen Ruinen, die der Krieg hinterließ. Er ahnt, wie lange es dauern wird, bis hier und andernorts im zweigeteilten Deutschland wieder Leben gedeihen kann.
Umso mehr freut er sich, dass man ihn, Sohn seiner Klasse, kaum dass er auf einem Vorläufer der Arbeiter- und Bauern-Fakultät das Abitur abgelegt hatte, nach Berlin ruft. Dort soll er an einer Schule der SED lernen, wie man eine neue, gerechte und vor allem friedliche Ordnung aufbaut. So hat man es ihm gesagt. Doch angekommen im Zentralkomitee der Partei, leitete man ihn sofort weiter in die Tschaikowski-Straße im Pankower Ortsteil Niederschönhausen. Dort nimmt man ihm zur Begrüßung seine Papiere ab, »zur Überprüfung der Formalien«. Am nächsten Tag bekommt er neue. Aus Werner Großmann, geboren als Sohn eines Zimmermanns und einer Küchengehilfin im sächsischen Oberebenheit, ist »Werner Olldorf« geworden. Seine Postadresse ist fortan ein Schließfach, Briefe an seine Frau hat er im Sekretariat der Schule abzugeben.
Den Charakter dieser Schule, so erzählte er später, habe er erst erahnt, als die Vorlesungen über nachrichtendienstliche Theorie und Praxis begannen. Schon ein Jahr darauf war »Olldorf« Mitarbeiter des Außenpolitischen Nachrichtendienstes der jungen DDR. Aus diesem erwuchs später die Hauptverwaltung A im Ministerium für Staatssicherheit (MfS). Großmann absolvierte in den 60er Jahren die Parteihochschule in Moskau, studierte Anfang der 70er an der »hauseigenen« Juristischen Hochschule in Potsdam-Golm, wurde irgendwann einer der Stellvertreter des Chefs der HVA. A wie Aufklärung. 1986 übernahm er diesen Bereich des Ministeriums mit rund 4000 Mitarbeitern komplett. Zuvor hatte der bisherige, legendäre Chef der DDR-Auslandsspionage, Markus Wolf, sein Talent als Schriftsteller entdeckt und sich aus dem Dienst verabschiedet.
Angesichts der problematischen und letztlich verhängnisvollen Entwicklung des Landes bis zur Wende 1989/90 war Wolf rechtzeitig der Ausstieg aus der Verantwortung gelungen. Großmann stellte sich ihr bis Ende 1989 - und darüber hinaus. Nicht blind, nicht mit bedingungslosem Gehorsam gegenüber der SED-Obrigkeit, die den Bezug zur Realität immer mehr verlor. Wie muss sich Großmann gefühlt haben, als sein Chef, MfS-Minister Erich Mielke, im Plenum der Volkskammer stammelte, wie sehr er doch alle Menschen liebte?
In Wendezeiten versuchte Großmann, der Generaloberst, mit Zustimmung des Runden Tisches, seine Mitarbeiter - insbesondere die, die als »Kundschafter des Friedens« in den verschiedensten Operationsgebieten, also im Ausland, unentdeckt lebten - zu schützen. Während er erreichte, dass die HVA sich selbst auflösen und zahlreiche relevante Unterlagen vernichten konnte, begingen andere Verrat. Es muss für Großmann eine seiner schlimmsten Stunden gewesen sein, als er erfuhr, dass bei der Operation »Rosenholz« sämtliche Daten über die Agenten der HVA in US-amerikanische und später teilweise in die Hände anderer westlicher Dienste gelangten, zu denen der Verfassungsschutz und der Bundesnachrichtendienst gehörten.
Auch Großmann erhielt in der Wendezeit zahlreiche vergiftete Angebote, man drohte oder versprach das Himmelreich auf Erden. Vergeblich. Großmann bewies Charakter. Am 3. Oktober 1990, dem Tag der deutschen Vereinigung, wurde er auf Geheiß der »Bonner« Justiz verhaftet. Der Vorwurf mutet grotesk an: Landesverrat und Agententätigkeit. Seine Vernehmer trafen auf einen Mann, der bereits von Natur aus wortkarg war. Wenn er etwas sagte, so war das abgewogen und sachlich. Eine Anklage wurde nie erhoben. 1995 stellte der Generalbundesanwalt alle Ermittlungen gegen den einstigen DDR-Chefkundschafter ein. Er wird gute Gründe gehabt haben.
Seine Sicht auf die DDR-Aufklärung hat Werner Großmann in ein Buch geschrieben: »Bonn im Blick«. Es ist nicht spannend, viel Gewese um sich konnte Großmann nie leiden. Insider entdeckten in dem im Jahr 2000 erschienenen Band wenig Futter. Verständlich, denn dem Autor kam es vielmehr darauf an, dass nicht alle Verdächtigungen und Schuldzuweisungen, die sich gegen ihn, seine Genossen und die Hauptverwaltung Aufklärung richten, unwidersprochen bleiben. So sehr man das gegenseitige Spionieren in der Zeit des Kalten Krieges auch kritisieren mag, weil es viel Leid und Misstrauen in den Alltag Unschuldiger brachte – dass die Arbeit der Menschen um und unter Werner Großmann ein Beitrag zur Sicherung des in vielerlei Hinsicht fragilen Friedens jener Jahre war, bestätigen auch etliche maßgebliche Gegenspieler Großmanns.
Der Mann, der 1952 in den Zug nach Berlin stieg, war voller Sehnsucht nach einer gerechteren Welt. Ihn trieb Zuversicht. Als Jahrzehnte später sein Land unterging und viele seiner Ideale mit in den Strudel riss, blieb Verzweiflung. Nicht aufgegeben hat er jedoch die Überzeugung: »Die Herrschaft des Geldes ist nicht die letzte Antwort der Geschichte.« Am Freitag ist Werner Großmann im Alter von 92 Jahren in Berlin gestorben.
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