- Berlin
- Tempolimit auf Hauptstraßen
Einen Gang runterschalten
Viele Anwohner wollen Tempo 30 auf Hauptstraßen – Bundesregelungen verhindern das
Tempo 30 »ist ein Mittel für mehr Sicherheit, weniger Lärm, weniger Schadstoffe und ein besseres Lebensgefühl«, schreibt Phillip Nitsch auf dem Portal »Open Petition«. Konkret geht es dort um die Forderung, dass auf der Frankfurter Allee in Berlin-Friedrichshain die derzeitige Höchstgeschwindigkeit von 50 Kilometern pro Stunde deutlich heruntergesetzt wird. Fast 800 Menschen haben die kurz vor Weihnachten gestartete Petition bereits gezeichnet, die sich an die für die Hauptstraßen zuständige Mobilitätsverwaltung des Senats richtet.
»Im Sinne einer sicheren, gesunden, nachhaltigen und lebendigen Stadt für Menschen müssen auch die großen Magistralen wieder Orte werden, an denen man sich als Zufußgehende*r oder Radfahrende*r gern aufhält«, schreibt Nitsch weiter. Tatsächlich läuft die Debatte zu einer Temporeduktion auch auf Hauptstraßen stadtweit.
»Über Tempo 30 sollten die Städte selbst entscheiden können, auch Berlin«, twitterte Mobilitätssenatorin Bettina Jarasch (Grüne) kürzlich, nachdem Bundesverkehrsminister Volker Wissing (FDP) über Pläne für eine Öffnung in dieser Hinsicht gesprochen hatte. Der Deutsche Städtetag hatte eine Initiative dazu gestartet. Bisher lässt die Straßenverkehrsordnung in Verantwortung des Bundes das für Hauptstraßen nur im Einzelfall zu. Will Berlin hier für Abschnitte Tempo 30 anordnen, braucht es nach der Straßenverkehrsordnung in jedem Fall gute Gründe. Dazu gehören beispielsweise Unfallschwerpunkte, Lärm- oder Schadstoffbelastungen. Die Regelgeschwindigkeit innerorts liegt bei 50 Kilometern pro Stunde.
Zur Frankfurter Allee, auf der werktags je nach Abschnitt zwischen 48 000 und 72 000 Fahrzeuge verkehren, lägen »aktuell keine Erkenntnisse vor«, dass hier »sensible Einrichtungen vorhanden sind, die eine Anordnung einer Geschwindigkeitsbeschränkung auf 30 km/h erfordern«, heißt es in einer Antwort der Mobilitätsverwaltung auf eine nd-Anfrage. »Die Unfalllage allein ist noch keine ausreichende Grundlage, da zum Beispiel Unfälle beim Abbiegen durch eine Geschwindigkeitsbeschränkung nicht verhindert werden.«
Vorerst kann die Senatsverwaltung nur schauen, wo sich Tempo 30 unter anderem aus Luftreinhaltungsgründen rechtfertigt. So wird, wie jüngst bekannt wurde, beispielsweise auf dem Abschnitt der Leipziger Straße zwischen Markgrafenstraße und Potsdamer Platz die 2018 eingeführte Höchstgeschwindigkeit von 30 Stundenkilometern beibehalten. Zusammen mit Abschnitten auf vier anderen Berliner Hauptverkehrsstraßen war jener auf der Leipziger Straße Teil eines Pilotprojekts. Von 2017 bis 2019 wurde hier der Effekt einer Reduzierung der Höchstgeschwindigkeit auf die Stickstoffdioxid-Belastung untersucht. Um 2,3 Mikrogramm je Kubikmeter Außenluft ging diese auf dem Abschnitt der Leipziger Straße im Jahresmittel mit der reduzierten Höchstgeschwindigkeit zurück. Eine Minderung um rund vier Prozent für den immer noch über dem europäischen Grenzwert von 40 Mikrogramm liegenden Straßenabschnitt.
Von Schadstoffen und Lärm sehen sich auch Anwohner der Berliner Allee in Weißensee geplagt. Seit über zehn Jahren kämpfen sie für eine Verkehrswende und Tempo 30. Nachdem das Verwaltungsgericht Berlin 2016 der Klage eines Anwohners stattgab und auf einem Abschnitt Tempo 30 wegen überschrittener Schadstoffgrenzwerte angeordnet werden sollte, ging die Senatsverkehrsverwaltung in Berufung. »Von der letzten grünen Hausleitung waren wir sehr enttäuscht«, sagt Friederike Schirdewan von der »Aktion Berliner Allee« zu »nd«. Trotz Beteuerungen sei in Weißensee nichts passiert: kein Tempo 30, kein Radweg, kein Umbau der nördlichen Einfallstraße. Was die neue Senatorin Bettina Jarasch betreffe, sei die Initiative nun »vorsichtig optimistisch«, dass sie die Verkehrswende vor Ort in die Hand nimmt. Jaraschs Haus ließ eine nd-Anfrage zu den Vorhaben für die Berliner Allee vorerst unbeantwortet.
Tempo 30 mache aber nicht nur Sinn, wenn es darum gehe, die Schadstoffbelastung zu reduzieren, argumentieren Verkehrsaktivisten. »Machen Sie die Straßen mit Tempo 30 sicherer für alle«, forderte beispielsweise Ragnhild Sørensen von der Initiative Changing Cities nach einem tödlichen Unfall einer Radfahrerin Anfang Oktober vergangenen Jahres. Zwar dürfte der Effekt einer reduzierten Höchstgeschwindigkeit auf die häufigen Unfälle mit abbiegenden Lkws fraglich sein. Doch für viele andere Unfallkonstellationen gilt: Ein niedrigeres Tempo bedeutet einen kürzeren Anhalteweg und damit auch eine potenziell mildere Unfallschwere.
»Für die Verkehrssicherheit wäre viel wichtiger, wenn in bestehenden Tempo-30-Bereichen das Tempolimit effektiv kontrolliert wird«, wendet Felix Reifschneider ein. Der Senat könne da sofort tätig werden, meint der FDP-Verkehrspolitiker im Abgeordnetenhaus. Eine 2016 veröffentlichte Studie zur Wirkung von Tempo 30 an Hauptverkehrsstraßen in Berlin gibt ihm insofern recht, als im Zuge von Kontrollen die tatsächliche Fahrgeschwindigkeit stärker sinkt. Dennoch zeigt die Studie, dass gerade die höheren Geschwindigkeiten auch ohne Kontrollen abnehmen – wer also bei Tempo 50 noch 55 Stundenkilometer und schneller fuhr, macht das in der Regel bei Tempo 30 nicht mehr.
Eine Herausforderung für Tempo 30 bleibt aber der Umgang mit dem Busverkehr. Allein das Pilotprojekt auf den fünf Abschnitten von Hauptverkehrsstraßen bedeutete für die BVG jährliche Mehrkosten von 620 000 Euro, um bei längeren Fahrzeiten den gleichen Takt einzuhalten.
Maßnahmen zur Verkehrssicherheit und Schadstoffreduzierung begrüßen die Verkehrsbetriebe grundsätzlich. »Allerdings muss unbedingt sichergestellt werden, dass insbesondere der Busverkehr, mit dem fast 40 Prozent der Fahrgäste unterwegs sind, nicht noch weiter verlangsamt wird«, so die BVG auf Anfrage. »Man sollte also an einen Ausbau von Busbeschleunigungsmaßnahmen, wie freigehaltene Busspuren, barrierefrei und ungehindert anfahrbare Haltestellen und konsequente Bevorzugung des Busverkehrs an den Ampeln, denken«, erklärt ein Sprecher gegenüber »nd«.
Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.
Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.
Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.
Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.