Raus aus der Klasse, zurück in die Klasse

Das Buch »Die journalistische Form der Theorie. Die Zeitschrift › alternative‹ 1958-1982« dokumentiert wesentliche Aspekte der Ideengeschichte von »68«

Was ist geblieben von der Umwälzung der Verhältnisse, mit der die Neue Linke in den 1960er und 1970er Jahren antrat? Bei dieser Frage landet geradezu unwillkürlich, wer sich aus materialistischer Perspektive mit dem Themenkomplex »68« beschäftigt. Und so leitet Moritz Neuffer seine Dissertation »Die journalistische Form der Theorie. Die Zeitschrift alternative 1958-1982« mit der Beschreibung eines Endes ein: Als die letzte Ausgabe der »Alternative« im Jahr 1982 erscheint, hätten »Ernüchterung und Repression … die Linke im Jahrzehnt der Tendenzwende und des Deutschen Herbstes zersprengt, Weggefährten sich auf ihrem Weg durch Bildungs- und Kulturinstitutionen in diesen eingerichtet, andere sich in Resignation, Innerlichkeit und subkulturelle Isolation zurückgezogen.«

Unter anderem wird in diesem (von Neuffer paraphrasierten) Urteil der »Alternative«-Redaktion erkennbar, dass die sozio-politischen Entwicklungen, die bis heute recht unzulänglich mit dem Schlagwort »68« bezeichnet werden, gleichsam in Etappen verlaufen sind. Entsprechend ist auch »Die journalistische Form der Theorie« im Wesentlichen nach Phasen gegliedert: 1952-1967, 1965-1968, 1967- 1975 und 1971-1982. Das Buch schreibt die Geschichte von »68« als Geschichte des »Zeitschriftenmachens«: der »Alternative« im Besonderen, aber auch der Publikationsform im Allgemeinen. Deren Bestimmung als »Königsdisziplin bewegungsförmiger Ideenproduktion« - wie viele zentrale Gedanken der Studie zitiert nach dem 68er-FU-Professor Jacob Taubes - benennt die Funktion des Zeitschriftenmachens für die Außerparlamentarische Opposition (APO).

Zugleich deutet Taubes Formulierung aber auf den Sinn, den Neuffers eigene Beschäftigung mit dem Phänomen Zeitschrift für die linke Wissenschaft der Gegenwart hat. Das literaturgeschichtliche Vorgehen des Autors kann seinerseits als »bewegungsförmig« angesehen werden, da es polit-literarische Produktionsverhältnisse durch die Zeit verfolgt. Es nimmt nicht zuletzt die materialistische Aufgabe ernst zu verdeutlichen, »daß die Faktoren der geschichtlichen Welt, die den menschlichen Erfahrungsbereich bedingen (Klasse, Arbeit, Kultur usw.), veränderlich sind«, wie die marxistische Literaturtheoretikerin Marieluise Gansberg es 1970 in »Methodenkritik der Germanistik« formulierte. (Nicht zufällig fiel die Sozialgeschichtsschreibung der Literatur ihrerseits der Verdrängung kritischer Wissenschaft über die 70er weitgehend zum Opfer.)

Erfahrung statt Theorie?

Die Geschichte von »68« ist jedenfalls auch eine der Integration der Linken in Staat und Mehrheitsgesellschaft, der Rückkehr der vorwiegend studentischen Aktivist*innen per Karriere in ihre Klasse, begleitet und angetrieben von einem Rückzug in Subjektivismus, Innerlichkeit, Identitätspolitik. »Eine Erzählung aus der Nachgeschichte von ›68‹ lautet, dass auf die Theoriedebatten der Studentenbewegung ein Diskurs der Erfahrung gefolgt sei«, schreibt Neuffer. Schon seit den frühen 70ern seien gesellschaftliche Verhältnisse und subjektives Erleben zunehmend unvereinbar auseinandergetreten, die Politisierung breiter Bevölkerungsteile ausgeblieben. Dass dies keinesfalls allein auf linke Fehler zurückzuführen ist, sondern zu guten Teilen etwa auf den postfaschistischen Charakter der BRD-Gesellschaft, ist kein Trost.

Als einen der Kipppunkte zum veritablen Antikommunismus innerhalb der (ehemals) Neuen Linken selbst beschreibt Neuffer die Neue Philosophie aus Frankreich: André Glucksmann etwa, ehemaliger Maoist, präsentierte 1977 die These, »dass das gesamte ›deutsche‹ geschichtsphilosophische Denken von Fichte und Hegel über Nietzsche bis hin zu Marx zwangsläufig in den Totalitarismus geführt habe«. Solche Deutungen wurden von der »Alternative« offenbar immer zurückgewiesen. Eine Distanzierungsgeste von der Selbstorganisation - seit den frühen 70er Jahren in vielen linken Betrieben ausprobiert - findet sich im Jahr des Deutschen Herbstes allerdings auch bei der »Alternative« selbst: Ausgerechnet seit 1977, dem Jahr des »Deutschen Herbstes«, unterzeichneten die Mitarbeiterinnen nicht mehr als Redaktionskollektiv, sondern schlicht als Redaktion.

Inhaltlich leistete die »Alternative« dennoch Widerstand gegen die Entpolitisierungs- und Zerfallstendenzen der Linken, durch ein »Festhalten an theoretisch-begrifflicher Rigorosität«. Dem linken Zeitschriftensterben im Laufe der 70er, das Neuffer beschreibt, kann die Redaktion allerdings nicht viel entgegensetzen; hiervon waren zumal die marxistisch-theoretisch ausgerichteten Zeitschriften betroffen. Eine Ausnahme bildete das von Hans Magnus Enzensberger seit 1968 im Rowohlt Verlag herausgegebene »Kursbuch«. Dies sei, so Neuffer, »mit seinen ›durchkomponierten‹, geradezu taschenbuchartigen Nummern ein Beispiel dafür, dass die Grenze zwischen Zeitschriften und Büchern zunehmend verwische. Rowohlt habe sich deshalb jüngst dazu entschlossen, sein neugegründetes ›Literaturmagazin‹ in eine Taschenbuchreihe zu integrieren.« Die Leserin erfährt hier nicht, dass sich Rowohlt bereits 1970 wieder vom »Kursbuch« trennte, weil dessen Heft 21 »Kapitalismus in der BRD« »das erträgliche Maß kapitalismuskritischer Schriften« überstiegen hatte (Helmut Peitsch, »Nachkriegsliteratur 1945-1989«). Ebenso wichtig ist aber der Verweis auf die Rolle des Rowohlt Verlags in der kapitalistischen Modernisierung des Buchmarkts und die damit einhergehende Verwischung der literarischen Genregrenzen, die bis heute fortschreitet.

Integration und Repression

Als weiterer Aspekt im bürgerlichen Integrationsprozess der APO wird in »Die journalistische Form der Theorie« die ungeheure integrative Kraft der kapitalistischen Produktionsweise deutlich. Die fortschreitende Kommodifizierung bislang vom Kapital weitgehend unangetasteter Lebensbereiche prägt die »68er«, spätestens seit sie sich in den 70er Jahren zu den Neuen Sozialen Bewegungen entwickeln. Gut arbeitet Neuffer die Spannung zwischen der Betonung persönlicher Leidenserfahrung und der Entdeckung der »Subjektivität als Produktivkraft« heraus. Die Theoretiker Oskar Negt und Alexander Kluge wiedergebend, schreibt er: »Relativ bald … sei das Innere der Bewegung von einem Prinzip der Außenwelt eingeholt worden: von einer allgemeinen Verwertungslogik, die im Inneren der Bewegung zu einer politischen Hierarchisierung von Interessen geführt habe. Die konkreten Eigeninteressen der Studierenden seien mit dem weltgeschichtlichen Zusammenhang (…) nicht mehr vermittelt, sondern ihm untergeordnet worden.« Im Zuge dieser Entwicklung steht auch das Phänomen Stellvertreterinnenpolitik, das die bundesdeutsche Linke bis heute plagt.

Neben den sozioökonomischen und ideengeschichtlichen Entwicklungen trug zur schleichenden Aufgabe revolutionärer Absichten nun noch ein dritter, gewichtiger Faktor bei: die Repression. Im Kontext der »Alternative« ist hier insbesondere der »Radikalenerlass« zu nennen, eine »für die Redaktion ›offen terroristische Maßnahme‹ des Staates«, welche ausgerechnet die sozialliberale Koalition unter Bundeskanzler Willy Brandt 1972 verabschiedete. Die »Berufsgruppe der schulischen Lehrkräfte« machte unter der Leser*innenschaft der Zeitschrift seit jeher »einen nicht unbedeutenden Teil« aus. So wurden die Berufsverbote in einer Ausgabe von 1974 explizit kommentiert, unter dem Titel »Kampf um den Unterricht. Sanktionen gegen Lehrer«.

Bezugspunkt Althusser

Aber das Verhältnis von Schule und Staat war auch als theoretischer Gegenstand dauerhaftes Thema der »Alternative«. Unter dem Titel »Nachrichten aus den ideologischen Staatsapparaten« wird die Orientierung der Zeitschrift an dem französischen Marxisten Louis Althusser behandelt, demzufolge dem »Gespann Schule/Familie« eine hervorgehobene Rolle in der Zurichtung der Subjekte in der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft zukommt. Allein auf das Berufsfeld der Leser*innenschaft kann die althusserianische Ausrichtung der »Alternative«, die Neuffer im Laufe des Buches herausarbeitet, dabei nicht zurückgeführt werden. Vielmehr habe Althusser - gemeinsam mit dem deutsch-amerikanischen Marxisten Karl Korsch - »für wichtige Momente in der intellektuellen Entwicklung der Neuen Linken im Allgemeinen« gestanden: Insbesondere etwa für die »Debatte über das Verhältnis von theoretischer und gesellschaftlicher Praxis in der bundesrepublikanischen Neuen Linken« sowie die »Diskussionen um eine materialistische Literaturtheorie«.

Ausführlich kann an dieser Stelle auf Althussers Theoriegebäude nicht eingegangen werden; auch hierfür lohnt der Blick in »Die journalistische Form der Theorie«. Ein grundlegendes Movens in dem Entwurf einer marxistischen Gesellschaftstheorie war dem Foucault-Lehrer jedenfalls die Kritik an Stalinismus und Realsozialismus: »Denn schließlich, so die Volte des Franzosen, basiere der real existierende Sozialismus der Sowjetunion selbst auf einer humanistischen Ideologie von der Befreiung des Menschen, die Ausdruck der Verhältnisse der Individuen zu den Widersprüchen und Problemen der Gesellschaft sei, diese aber niemals theoretisch lösen könne.« Die Identifikation der Fehler in den marxistischen Irrwegen als linke Selbstkritik ist unerlässlich. Eben deshalb lassen sich auch gegen Althusser wiederum Einwände erheben - etwa, ob denn nicht auch ein patriarchaler Autoritarismus als konstitutives Hindernis in der Verwirklichung eines »universalen Humanismus« mindestens genannt werden muss. Aber auch für eine solche Auseinandersetzung ist dies nicht der Ort.

Praxen der Patriarchatskritik

Betont werden muss vielmehr, dass Neuffer mit der »Alternative«-Herausgeberin Hildegard Brenner auf eine der wenigen Frauen fokussiert, die sich im männerdominierten 68er-Kontext durchsetzen konnten - und dies auch noch im Bereich der Theoriebildung, was einmal mehr ungewöhnlich war. Die Zeitschrift »Alternative« sei mit »Brenner, einst Gallas, nun Wördermann und Meyer-Gosau … immer ein maßgeblich von Frauen bestimmtes Projekt« gewesen - und ist damit ein Beispiel für praktische Patriarchatskritik, schlicht indem Frauen Aufgaben übernehmen, von denen sie bisher ausgeschlossen waren. Eine explizite feministische Positionierung ist hierfür nicht Bedingung und war im Fall der »Alternative« tatsächlich auch nachgeordnet: Das Redaktionskollektiv schaltet sich vergleichsweise spät »in feministische Theorie und Praxis ein, ohne das marxistische Selbstverständnis preiszugeben«. In ähnlicher Weise patriarchatskritisch, nämlich implizit durch die Praxis der Beforschung einer weiblichen Akteurin, geht übrigens auch »Die journalistische Form der Theorie« selbst vor. Explizit widmet sich Neuffer dem Gegenstand Feminismus nur in dem Unterabschnitt »Theorie aus Erfahrung. Feminismus in Zeitschriften«. Er liefert ein Panorama der seit den späten 60er Jahren sich entwickelnden Frauenbewegung, benennt korrekt die Frontlinien etwa zwischen Marxistinnen und Differenzfeministinnen.

Die patriarchalen Verhältnisse in der Neuen Linken selbst, aus der die Zweite Frauenbewegung entstand, führt Neuffer dabei leider nicht aus, sondern spricht vage von »Defiziten« im »Inneren der Studentenbewegung«. Und dass Hildegard Brenner trotz ihrer prominenten Rolle in der Bewegung heute nicht zu den bekannten 68er-Intellektuellen zählt, erklärt er sich folgendermaßen: »Die relativ geringe Bekanntheit, die Brenner seither zuteil geworden ist, zeugt von der häufig ausbleibenden Repräsentation publizistischer Arbeiten in der Intellektuellen- und Wissenschaftsgeschichte.« Daran ändere auch die Tatsache wenig, »dass es sich bei ihr um die erste alleinige Herausgeberin einer größeren Literatur- oder Kulturzeitschrift in der Bundesrepublik handelt«.

Eine anti-publizistische Haltung mag teilhaben an Brenners Verdrängung aus dem wissenschaftlichen Kanon - aber dass sie eine Frau war, hat dieser Verdrängung sicher nicht entgegengewirkt, wie Neuffer nahelegt, sondern sie noch befördert. Beweisen lässt sich das kaum, aber die systematische Unterschlagung bedeutender Leistungen von Frauen - häufig bei gleichzeitiger Aneignung entscheidender Gedanken durch männliche Kollegen - in allen anderen gesellschaftlichen Bereichen legt diesen Schluss doch sehr nahe. Unterm Strich bleiben Kritikpunkte wie dieser dennoch Randbemerkungen zu einem insgesamt äußerst gelungenen Buch, das nicht zuletzt wichtig ist aufgrund einer klaren Parteilichkeit gegenüber dem eigenen Gegenstand: der Geschichte und Gegenwart von emanzipatorischer Gesellschaftsveränderung.

Moritz Neuffer: Die journalistische Form der Theorie. Die Zeitschrift ›alternative‹ 1958-1982. Wallstein 2021, 415 S., geb., 36 €.

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