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Selbstretter auf die letzte Sekunde

Der ideale Expeditionsführer: Der Schauspieler Martin Wuttke wird 60

  • Gunnar Decker
  • Lesedauer: 5 Min.

Dieser Schauspieler ist zu Ekstasen unvergleichlicher Art fähig und geht mit ihnen unbeirrt voran - immer ins Abseits des Absurden. Das hochfliegende Wort ist das eine, es wieder einzufangen, das andere. Manchmal fängt man auch das falsche oder gleich zwei, die sich ausschließen. Der zur entschiedenen Tat drängende Impuls mündet dann in heftiger Verlegenheit, in verbaler Ladehemmung, vor allem, wenn man mittels Wort mal richtig, aber so richtig zulangen wollte. Der hauptsächlich verwendete Buchstabe dabei ist das »Ä«, vornehmlich in beliebig verlängerter Reihung: »Ääää…«. Er trifft uns in unserem ehrlichsten Moment: der Ratlosigkeit.

Die Rede ist von Martin Wuttke, der heute 60 wird. Ein Solitär unter den Schauspielern hierzulande, lebender Beweis dafür, dass Pathos und Ironie sich nicht ausschließen - im Gegenteil. Wuttkes Bühnenfiguren sind ihrem Wesen nach lächerlich, aber das schmälert keineswegs ihren Auftrittsfuror!

Wie alle echten Künstler ist Wuttke ein Zeitspieler im Raum - geht mal zu schnell, mal zu langsam; zeigt, wo er verbergen sollte, verbirgt, wo Bekennen gefragt ist; geht lässig vorbei, wenn ein fester Standpunkt gefordert wird. Garantiert fällt er, wo er steigen sollte, schweigt, wo er reden müsste, aber der Aufschrei kommt dann doch ganz unvermutet - wie ein letzter Gruß aus einer misslichen Lage (die Lage ist immer misslich). Das ist die Substanz, die nach einer Form sucht, die bewusst täuscht, aber nicht lügt. Angesichts der Größe dieser Aufgabe fällt der Ruhelose zwangsläufig in Löcher, Schlaglöcher auf den Landstraßen der menschlichen Provinz. Dann hat die Bedeutsamkeit Sendepause.

Der Tragöde Wuttke sieht sich ausgesetzt im allgegenwärtigen Trash. Daraus wachsen bloß noch bittere Clownerien, aber mehr geht kaum in einer Zeit, die ihre Tiefe verloren hat, aber sie so gar nicht vermisst. Des Schauspielers hochartistische Wortmäander (etwa bei René Pollesch) sind hermeneutische Exerzitien - doch wie weit kann man dabei zurückgehen an entrückte Anfänge? Gottfried Benn hatte geschrieben: »O daß wir unsere Ururahnen wären. / Ein Klümpchen Schleim in einem Moor.« Eine Expedition ins Reich des Urschleims, des Chaos.

Wuttke ist der ideale Expeditionsführer bei solch gefährlicher Reise zu sich selbst als Gestalt gewordenem biochemischen Prozess. Am 8. Februar 1962 in Gelsenkirchen geboren, diesem industriell trockengelegten Sumpf im Wirtschaftswunderland West. Über Bochum verschlug es ihn nach der Wende gen Osten, dorthin, wo er am ostigsten war, nach Ostberlin an Frank Castorfs Volksbühne und an das von einem »Intendantenkollektiv« wie in einem schlechten Western umkämpfte Berliner Ensemble.

Heiner Müllers Inszenierung von Brechts »Der aufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui« von 1995 am Berliner Ensemble, bis heute im Spielplan (insgesamt über 400 Mal gespielt!), scheint Martin Wuttkes Turnhalle. Denn wie vor einem Vierteljahrhundert arbeitet sich dieser Schauspieler mit einem schier für unmöglich gehaltenen physischen Kraftakt durch Brechts Politmafia-Milieu. Immer wie neu ein Hitler-Hund auf allen vieren, im Liegestütz mit weit heraushängender Zunge hechelnd, Worte bellend, ein Stück Urschleim auf dem Weg zur absoluten Macht aus sich herauswürgend!

Wenn ich die Wuttke-Bilder in meinem Kopf aufrufe, dann stoße ich auch auf eine andere Verhängnisgeschichte aus dem Jahr 2000, wiederum am Berliner Ensemble. Wuttke in dem irren Monolog von Tom Peuckert »Artaud erinnert sich an Hitler und das romanische Café«. Eine Szenerie um den Theaterextremisten Antonin Artaud, der sich eine Begegnung mit Hitler im Jahre 1932 herbeihalluziniert. Artaud-Wuttke in einen Glaskasten eingesperrt mit dem aufsteigenden Jahrhundertwahnsinn kämpfend, dabei rührend bemüht um eine Topfpflanze, die vermutlich nicht zu retten sein wird. Aber dieser bohrende Kopfschmerz: Martin Wuttkes sich selbst jagender Schmerzensschrei »Aspiriiiin!« versinkt niemals im Meer des Vergessens!

Dann natürlich Castorf, der dem, der zu nehmen vermag, Spielräume gibt: natürlich den Faust (Wahnsinn in sich tragend), ein Bruder Hitlers? In den jahrelangen forciert antipsychologischen Dostojewski-Exerzitien war Wuttke buchstäblich der Hauptleidtragende, der sich von Raskolnikow in »Schuld und Sühne« bis zum Fürsten Myschkin in »Der Idiot« alles auf den Leib lud, was sonst niemand tragen konnte.

In den vergangenen Jahren suchen sich Martin Wuttke und René Pollesch in ihren absurd-realistischen Zeitgeist-Vivisektionen wie »Melissa kriegt alles« oder »Donna« (beides am Deutschen Theater Berlin), zuletzt an nun Polleschs eigener Volksbühne in »Aufstieg und Fall eines Vorhangs und sein Leben dazwischen«. Auftritt Wuttke mit zwei dicken Goldketten, Jogginghose mit Glitzertotenkopf und Gerippe als Rucksack. Der Vorhang lebt, atmet geradezu in Grellrosa, das Personal dagegen wirkt wie aus dem Fundus eines Prekariats heraufgestiegen, das vor allem rauchen und reden will. Wuttke: »Immer wenn ich einen Gedanken habe, schlafe ich sofort ein.« Müde Fragezeichen aber helfen gegen die Militanz der aufmarschierenden Ausrufezeichen - so der Tenor dieser 90 Minuten aberwitziger Dialoge vornehmlich mit Kathrin Angerer. Warum wirkt diese offensichtlich dekadente Inszenierung so, »als habe jemand die Fenster aufgestoßen«, wie es Stefan Heym am 4. November 1989 formulierte, als freie Geister endlich die ideologische SED-Stickluft vertrieben? Die Zeit kreist, und manchmal wiederholen sich auch die Befreiungserlebnisse.

Wuttke ist mit nunmehr 60 fast noch einer der Jungen, aber seine vielen Arbeiten passen schon jetzt nicht in einen mittellangen Text. Noch ist kein Wort über den erfolgreichen Filmschauspieler gesagt, der schließlich schon in Quentin Tarantinos »Inglourious Basterds« Hitler war oder kürzlich in »Heute stirbt Kainer« einen Selbstmörder spielte, den niemand rettete. Erstaunlich eigentlich für diesen Typus Selbstretter auf die letzte Sekunde, der sich offensichtlich nur in Dostojewskis »Aufzeichnungen aus einem Kellerloch« wirklich wohlfühlt, schon der lehrreichen Perspektive wegen.

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