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Veruntreuung vor aller Augen
Entwicklungsgelder werden zunehmend eingesetzt, um die EU-Außengrenzen nach Afrika zu verlegen und sich abzuschotten
»Fluchtursachenbekämpfung« ist auch so ein Wort. Nicht schön, aber vielleicht gut gemeint, klingt es nach langatmigen, mühevollen politischen Reformversuchen bei allem, was das Leben von Menschen zur Hölle machen kann. Von A wie Armut über G wie Gewalt, K wie Klimakrise, P wie Perspektivlosigkeit bis Z wie Zikavirus – die Lücken möge jede und jeder für sich selbst füllen.
Dieser Artikel stammt aus OXI - Wirtschaft anders denken. OXI ist eine ökonomiekritische Monatszeitung, die exklusiv für nd-Abonnent*innen in »nd DIE WOCHE« beiliegt. Es liefert ökonomische Hintergründe und Analysen. Mehr über OXI gibt es hier.
In der EU-Kommission allerdings hat dieses Wort mittlerweile eine ganz eigene Bedeutung. Dort, wo es irgendwo im Keller, oder in der Aktentasche der Präsidentin, einen orwellschen Automaten zur Verrohung des Sprechens und Denkens geben muss, besteht die Ursache von Flucht darin, dass die Fliehenden nicht früh und gründlich genug aufgehalten werden. Koste es, was es wolle – und zwar vor allem Entwicklungshilfegelder.
Der Grundgedanke ist nicht neu, schon immer gab der Reiche den Armen gerne Almosen, um sie sich vom Leibe zu halten. Und europäische Staaten und die EU haben vom Beginn des Jahrtausends bis 2015 Regierungen in Afrika rund zwei Milliarden Euro bewilligt, um irreguläre Migration zu bekämpfen. Peanuts, in Relation zu den insgesamt 20 Milliarden, die Afrika im Jahresdurchschnitt an Entwicklungshilfe aus Europa bekam. Nachdem die europäische Migrationspolitik 2015 so unübersehbar gescheitert war, dass selbst Angela Merkel rasch handeln musste, gab es dann kein Halten mehr. Die staatliche deutsche Entwicklungshilfeagentur GIZ konzentrierte sich bei ihrer Jahrespressekonferenz 2016 ausschließlich auf die Aktivitäten zur »Fluchtursachenbekämpfung«. Auf europäischer Ebene wurde das Rücknahmeabkommen mit der Türkei verabredet und 2017 ein »Nothilfefonds für Afrika« aufgelegt. Beides finanziert mit umgeschichteten Entwicklungshilfegeldern und für Projekte, in deren Beschreibung »Fluchtursachenbekämpfung« häufig präziser als »Grenzertüchtigung« oder »besseres Migrations- oder Grenzmanagement« bezeichnet wird.
Simone Schlindwein und Christian Jakob haben in ihrem 2017 erschienenen Buch »Diktatoren als Türsteher Europas« umfassend belegt, wie die EU auf diese Weise ihre Grenzen nach Afrika verlegt. Gleichzeitig, so der Befund des Internet-Portals migration-control.info, zeige sich seither ein »fundamentaler Paradigmenwechsel bei der Entwicklungszusammenarbeit«, bei dem vor allem jenem »Nothilfefonds« (EUTF) eine entscheidende Rolle zukommt. Mit akribischen Quellennachweisen versehen, weist migration-control.info nach, dass von den rund fünf Milliarden Euro, die in den vergangenen fünf Jahren für den EUTF bereitgestellt wurden, 88 Prozent aus den Etats der EU-Entwicklungshilfe-Ministerien stammen: »Es handelte sich vor allem um eine Neustrukturierung der Entwicklungshilfe – nicht um zusätzliches Geld. Die Mittel kommen 26 afrikanischen Ländern zugute – ausschließlich solchen, von denen aus Europa geografisch für Migrant*innen erreichbar ist. Sie sind in drei Regionen, genannt ›Fenster‹ aufgeteilt: Horn von Afrika (1.808 Millionen Euro), Nordafrika (900 Millionen Euro) und Sahel/Tschadsee (2.145 Millionen Euro). Die bislang 245 Maßnahmen werden von verschiedenen Implementierungspartner*innen umgesetzt, darunter die Entwicklungsagenturen der EU-Mitgliedstaaten, internationale und lokale NRO sowie internationale Organisationen oder UN-Agenturen. Die Schwerpunktbereiche der Maßnahmen sind ›Rückkehr und Reintegration‹; ›Flüchtlingsmanagement‹; ›Sicherung von Dokumenten und des Personenstandswesens‹; ›Bekämpfung des Menschenhandels‹; ›Stabilisierungsbemühungen am Horn von Afrika‹ und ›Unterstützung von Migrationsdialogen‹«.
Jeder dieser Bereiche ist weit mehr als ein Geschäftsfeld: Er ist die selbst im Neoliberalismus rare Möglichkeit, den Kuchen gleichzeitig zu haben, aufzufressen und dabei noch gut auszusehen. Menschen werden mit allen Mitteln in ihrer Bewegungsfreiheit beschränkt und so daran gehindert, in Europa ihre Rechte geltend zu machen oder auch nur ihr Glück zu versuchen. Wenn sie bei diesem »Migrations- und Grenzmanagement« ertrinken, verhungern oder erfrieren, passiert das in Zukunft aber nicht mehr vor der Haustür Europas. Vermieden werden also Fernsehbilder, die als »Schande Europas« selbst hartgesottene Berufspolitiker aus dem Tritt bringen und die Zivilgesellschaft in Rage. Stattdessen kann das mit der Türkei und jetzt auch Belarus schon erprobte Verantwortungsmodell »bedauerndes Schulterzucken und Fingerzeigen auf undemokratische Regime« ausgebaut werden.
Gleichzeitig wird durch »Grenzertüchtigung« ein riesiger neuer Absatzmarkt für europäische Firmen geschaffen. Über eine Milliarde Menschen in Afrika benötigen digital lesbare Dokumente – das sind Aufträge beispielsweise für die Bundesdruckerei oder die ebenfalls in Berlin ansässige Veridos Identity Solutions. Letztere kam seit 2016 zum Zug, nachdem das oberpfälzische Familienunternehmen Mühlbauer bei seinen lukrativen Geschäften mit der Regierung Ugandas unter Korruptionsverdacht geraten war. Mittlerweile, so ist bei migration-control.info zu lesen, gibt es ähnliche Vorwürfe auch gegen Veridos und deren Mutterkonzern G&D in München. Dabei ging es um Geschäfte mit Kamerun und Simbabwe. Verwunderlich ist das nicht, schließlich locken beachtliche Profite. Für die neuen biometrischen Dokumente braucht es Scanner, vernetzte Computer, Datenspeichersysteme. Insgesamt, so Berechnungen eines entsprechenden US-Marktforschungsinstituts, könne auf dem globalen Biometriemarkt im Jahr 2031 ein Jahresumsatz von 40 Milliarden US-Dollar erzielt werden.
Dabei sind derartige Produkte noch der deutlich harmlosere Teil dessen, was unter dem Vertuschungsbegriff »Sicherheitstechnik« verkauft werden kann. Zum schmutzigen Rest gehören: Klingendraht, Nachtüberwachungssysteme, Wärmebildkameras, Radarsysteme, Aufklärungsdrohnen – nicht weniges davon »Made in Germany«. Damit war schon 2018 ein weltweites Auftragsvolumen von 17,5 Milliarden Dollar verbunden, hat das Transnational Institute in Amsterdam in seiner englischsprachigen Studie »The Business of Building Walls« ausgerechnet, und in den nächsten Jahren sei mit Wachstumsraten von mindestens 8 Prozent zu rechnen. Allein die stetig wachsende europäische Menschenrechtsverletzungsagentur Frontex könne gut und gerne 2,2 Milliarden Euro für Material ausgeben. Wer genauer wissen möchte, welche europäischen und deutschen Konzerne von dieser »Materialbeschaffung« profitieren, sei erneut auf die Website migration-control.info verwiesen.
An dieser Stelle muss gesagt werden, dass es bislang ausdrücklich untersagt war, derartiges »Material« aus Geldern der europäischen Entwicklungshilfe zu finanzieren. Dafür mussten andere Haushaltstöpfe der EU oder Einzelstaaten herhalten, anschließend wurde das zur »Grenzertüchtigung« Gekaufte weiterverschenkt. Ein Verfahren, das laut Aussage des ehemaligen Kommissionspräsidenten Jean-Claude Juncker zu »unflexibel für Herausforderungen wie die Migrations- und Flüchtlingskrise im Jahr 2015« gewesen sei.
Ursula von der Leyen hat ihm offensichtlich zugestimmt, jedenfalls wurde unter ihrer Präsidentschaft der Haushaltsplan für die Jahre 2021 bis 2027, mehrjähriger Finanzrahmen genannt, entsprechend aufgeräumt. Von nun an gibt es – wieder ein Begriff aus dem Automaten – ein »Instrument für Nachbarschaft, Entwicklungszusammenarbeit und internationale Zusammenarbeit (NDICI)«, ausgestattet mit 79,5 Milliarden Euro. Das sind keine zusätzlichen Finanzmittel, sondern Gelder, die vorher insgesamt sieben unterschiedlichen Fonds und Töpfen zugeordnet waren – darunter zwei, die ausdrücklich für Entwicklungshilfe bestimmt waren und deren Regularien unterlagen. So wird auch der bisherige EU-Entwicklungsfonds verschwinden. Neu aufgelegt dagegen wird ein Fonds zum »Integrierten Grenzmanagement« (IBMF) der mit 16 Milliarden Euro ausgestattet ist, allein für die nächsten sechs Jahre.
Wie schon beim »Nothilfefonds für Afrika« haben auch auf diese Gelder nicht alle afrikanischen Staaten Zugriff, sondern nur diejenigen, die sich aufgrund ihrer geografischen Lage überhaupt dazu eignen, an der Behinderung von Bewegungsfreiheit mitzuwirken, und dies dann auch zur Zufriedenheit der europäischen Länder tun. Für Schulen, Krankenhäuser, Klima-Anpassung und andere notwendige Aufgaben, für die sich Entwicklungshilfe früher immerhin noch zuständig gefühlt hat, wird vielerorts noch weniger Geld vorhanden sein als bisher. Gut möglich also, dass der eine oder andere Politiker auf dem afrikanischen Kontinent auf die Idee kommt, die unnützen Gaben einzutauschen gegen Geld, um damit anderes zu bezahlen, was vor Ort dringender benötigt wird. In der Folge kommt es dann nicht selten vor, dass »Terrormilizen«, »Menschenhändler« oder »Warlords« in bettelarmen Ländern plötzlich über moderne gepanzerte Fahrzeuge, Drohnen und anderes Hightech-Gerät verfügen und damit weitere Fluchtursachen schaffen, finanziert mit europäischen Steuergeldern. Veruntreuung nennt die EU-Kommission solche Deals erst dann, wenn sie die Verantwortung dafür gleich mit nach Afrika abschieben kann.
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