Werbung
  • Berlin
  • Ungleichheit bei der Gesundheitsversorgung

Zu arm für ausreichend Ärzte

Das Gesundheitskollektiv Berlin kritisiert die mangelnde gynäkologische Versorgung in Neukölln

  • Lola Zeller
  • Lesedauer: 7 Min.

Das Gelände der alten Kindl-Brauerei in der Rollbergstraße in Neukölln ist eine große Baustelle. Absperrungen, Gerüste und aufgerissener Boden auf dem Vorplatz machen den Zugang nur über Parallelstraßen möglich, wenn man sich nicht dreist durch die Bauzäune vorbei aufs Gelände zwängen möchte. Hier entsteht unter anderem das Stadtteilgesundheitszentrum des Gesundheitskollektivs Berlin, das schon im Dezember in die halb fertigen Räume eingezogen ist.

Die Hausarztpraxis und die Kinderarztpraxis sind trotzdem gut besucht, und auch Sozialberatung, Pflegeberatung und Psychotherapie werden bereits angeboten. Der Ansatz des Gesundheitskollektivs ist es, über medizinische Versorgung hinaus auch die soziale Lage der Menschen im Kiez als starken Einfluss auf die Gesundheit einzubeziehen in die Arbeit des Versorgungszentrums. »Wenn zum Beispiel eine Hausärztin bei der Untersuchung feststellt, dass die Gesundheit einer Patientin stark durch soziale Schwierigkeiten beeinflusst ist, dann können wir direkt einen Termin bei der Sozialberatung nebenan vereinbaren, sofern das gewünscht ist«, sagt Patricia Hänel zu »nd«. Die erfahrene Ärztin arbeitet als Koordinatorin des Stadtteilgesundheitszentrums, das zwischen dem Rollbergkiez und dem Flughafenkiez gelegen ist.

Gerne würde das Gesundheitskollektiv auch eine gynäkologische Praxis im Stadtteilgesundheitszentrum unterbringen, dafür fehlt allerdings der Platz. »Am Anfang dachten wir, dass wir die 520 Quadratmeter, die wir hier haben, schon kaum finanzieren können. Aber inzwischen stellen wir fest, dass wir eigentlich den doppelten Platz brauchen für unsere Arbeit«, sagt Hänel. Die Mieten seien aber zu hoch und die Finanzierung des Zentrums durch verschiedene Fördermittel sowieso schon schwierig genug, vor allem weil die Zuschüsse des Landes Berlin gekürzt worden seien, so die Koordinatorin des Projekts.

Eine gynäkologische Praxis in Neukölln wäre vor allem deshalb wichtig, weil es daran im Bezirk stark mangelt. Laut Daten der Kassenärztlichen Vereinigung (KV) Berlin liegt die Versorgungsrate bei 71 Prozent - die geringste aller Berliner Bezirke. Frauen, Inter-, nicht-binäre und Trans-Personen, die auf die Untersuchung und Behandlung ihrer Geschlechtsorgane angewiesen sind, haben es in Neukölln also besonders schwer, sich wohnortnah versorgen zu lassen.

Das Gesundheitskollektiv hält diesen Zustand für dringend änderungsbedürftig. »Es ist ganz klar ein Problem von Verteilungsgerechtigkeit«, sagt Franziska Paul zu »nd«. Sie ist Sozialwissenschaftlerin und arbeitet für das Gesundheitskollektiv im Bereich Forschung und Evaluation. »61 Prozent der Neuköllner Patient*innen sind bei Gynäkolog*innen in anderen Bezirken angebunden. Das heißt, eine Untersuchung ist mit einem erheblich größeren Aufwand verbunden«, sagt sie.

Es sei nicht nur ein zeitlicher, sondern auch ein finanzieller und ein organisatorischer Mehraufwand für Neuköllner*innen: »Nicht alle können sich ein Auto leisten. Und wenn, bedeuten zusätzliche Spritkosten oder auch Bahntickets eine weitere finanzielle Belastung. Und dann müssen viele auch noch Kinderbetreuung organisieren oder Termine außerhalb ihrer Lohnarbeitszeiten bekommen«, sagt Paul. Das könne schon dazu führen, dass Patient*innen weniger zu Vorsorgeuntersuchungen gehen. Vor allem auch für Schwangere oder Menschen mit gynäkologischen Notfällen oder starken Schmerzen sei es ein großes Problem, keine Praxis in der Nähe zu haben.

Die Kassenärztliche Vereinigung Berlin teilt auf »nd«-Anfrage mit, es bestehe gar keine Unterversorgung an Gynäkolog*innen in Neukölln, diese beginne erst bei einem Versorgungsgrad, der weniger als 50 Prozent beträgt. Die Ärzt*innengruppe ist wie die meisten anderen auch von der KV gesperrt, weil der Bedarf in Berlin mit knappen 110 Prozent gedeckt sei. Deshalb können sich Gynäkolog*innen nur in Berlin niederlassen, wenn eine schon bestehende Praxis frei wird, und dann sind sie frei in der Wahl des Standorts, weil Berlin außer im Fall der Hausärzt*innen als ein einziger Planungsbereich betrachtet wird.

Wäre das anders, gebe es in Neukölln etwa 14 weitere Sitze an Gynäkolog*innen zu vergeben, sagt Laura Vele für die KV Berlin. »Das würde dann aber vernachlässigen, dass andere Bezirke, deren Praxen Neuköllnerinnen mitversorgen, teilweise über deutlich mehr Ärzte verfügen als für die Versorgung des eigenen Bezirks notwendig sind«, so Vele. »Der nahe Bezirk Charlottenburg-Wilmersdorf verfügt über 40 Sitze über dem Soll«, sagt sie.

Mit Blick auf die statistischen Tabellen der KV Berlin fällt auf, dass es bei den Gynäkolog*innen wie bei anderen Ärzt*innen auch gerade die wohlhabenden Bezirke sind, die über dem Soll liegen. Neukölln ist berlinweit am schlechtesten mit Gynäkolog*innen ausgestattet, auf 164 161 Frauen im Bezirk sollen laut der Bedarfsplanung der KV eigentlich 48,3 Gynäkolog*innen kommen, es gibt aber nur 34,25. Daraus entsteht der Versorgungsgrad von 71 Prozent. Ebenfalls unterhalb der vollständigen Versorgung liegen Marzahn-Hellersdorf und Treptow-Köpenick mit jeweils rund 91 Prozent, Friedrichshain-Kreuzberg schafft es knapp auf 100 Prozent. Die am besten versorgten Bezirke sind Charlottenburg-Wilmersdorf mit einem Versorgungsgrad von 186 Prozent, Mitte mit 130 Prozent und Steglitz-Zehlendorf mit 129 Prozent.

Ein Grund für die unterschiedliche Versorgungsverteilung sei, dass in Bezirken, in denen das Einkommen der Bewohner*innen höher ist, auch mehr Geld zu verdienen sei, sagt Franziska Paul vom Gesundheitskollektiv. »Dort gibt es mehr Privatpatient*innen und es werden häufiger die sogenannten individuellen Gesundheitsleistungen, die privat bezahlt werden müssen, in Anspruch genommen«, so die Sozialwissenschaftlerin. In Neukölln hingegen berichteten viele von einem erschwerten Zugang zu Gynäkolog*innen. »Es ist sehr schwierig, einen Termin zu bekommen, oder überhaupt als Neupatient*in aufgenommen zu werden«, sagt sie. Die schlechtere Versorgungsrate und die tendenziell längeren Wege stellten eine klare Benachteiligung für die Bewohner*innen des Bezirks dar. So sieht es auch ihre Kollegin Patricia Hänel. »Die Situation ist besonders kritisch, weil es sich bei der Gynäkologie um einen Teil der Primärversorgung handelt, genauso wie Allgemeinmedizin und Kindermedizin. Die Primärversorgung muss wohnortnah gewährleistet werden«, sagt sie.

Dass die KV Berlin keinen akuten Handlungsbedarf sieht, da planungsrechtlich keine Unterversorgung in Neukölln bestehe, empört beide Mitarbeiter*innen. »Einfach schulterzuckend hinzunehmen, dass in Neukölln der Bedarf an Gynäkolog*innen nur zu 70 Prozent gedeckt ist und auf andere Bezirke zu verweisen, ist eine Frechheit«, sagt Hänel. »Es ist schlicht ungerecht«, so Paul.

Auch die Gesundheitsstadträtin Neuköllns, Mirjam Blumenthal (SPD), hält Maßnahmen zur gerechteren Verteilung der gynäkologischen Versorgung für wichtig. »Logisch wäre, dass neue Ausschreibungen für Fachärzte nur in Bezirken mit starker Unterversorgung erfolgen. Darüber werde ich weiter mit der KV sprechen. Es darf nicht die Wohngegend dafür entscheidend sein, ob die Berlinerinnen und Berliner Zugang zu guter medizinischer Versorgung haben«, sagt sie zu »nd«.

Das Gesundheitskollektiv sieht auch ein generelles Problem in der Bedarfsplanung der KV, weil sie anhand Einwohnendenzahlen bemessen werde, aber nicht die sozioökonomische Struktur der Bezirke aufnehme, sagt Sozialwissenschaftlerin Franziska Paul. »Mit geringem Einkommen und anderer sozialer Benachteiligung gehen oft komplexere gesundheitliche Probleme einher«, so Paul. So können Beratungen und Behandlungen zeitaufwendiger sein, der zusätzliche Zeitaufwand werde aber nicht durch die Krankenkassen vergütet. Ärzt*innen seien dadurch überfordert, weil sie soziale Probleme, die eng mit gesundheitlichen verknüpft seien, nicht adäquat adressieren können. »Wenn eine Person, die an der Karl-Marx-Straße/Ecke Flughafenstraße im Erdgeschoss wohnt, starkes Asthma hat, muss sie natürlich ärztlich behandelt werden, aber das Problem ist ein anderes«, sagt Ärztin Patricia Hänel.

Für das Gesundheitskollektiv ist es deshalb besonders wichtig, ihre Angebote an die Bedarfe im Kiez anzupassen. So bietet es aufsuchende Gesundheitsberatung in Zusammenarbeit mit zahlreichen umliegenden Initiativen an und wird in zwei Wochen ein Café in den eigenen Räumen eröffnen, um den Anwohner*innen einen einfachen Zugang zu den Versorgungsangeboten zu ermöglichen, erzählt Hänel.

Die Ärztin freut sich darauf, dass Stadtteilgesundheitszentrum nach und nach richtig zu eröffnen. »Noch ist es eine ziemliche Baustelle hier, aber wir kommen voran«, sagt sie mit Blick auf unverputzte Wände, herumstehende Schränke und den Tresen des bald fertigen Cafébereichs. Zum Frühlingsbeginn sei ein großes Eröffnungsfest für den Kiez geplant, wenn alles schön eingerichtet ist und man draußen bei gutem Wetter auf dem Gelände der alten Brauerei zum Beispiel eine Hüpfburg für die Kinder aufbauen kann.

Werde Mitglied der nd.Genossenschaft!
Seit dem 1. Januar 2022 wird das »nd« als unabhängige linke Zeitung herausgeben, welche der Belegschaft und den Leser*innen gehört. Sei dabei und unterstütze als Genossenschaftsmitglied Medienvielfalt und sichtbare linke Positionen. Jetzt die Beitrittserklärung ausfüllen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.

Vielen Dank!

- Anzeige -
- Anzeige -