Verlegerin Nora Pester: »Bücher alleine reichen nicht«

Die Verlegerin Nora Pester über Selbstständigkeit, gesellschaftliches Engagement und Unsicherheit

  • Sarah Nägele
  • Lesedauer: 7 Min.

Sie stecken mitten in den Vorbereitungen zur Leipziger Buchmesse, aktuell steht die aber wieder auf der Kippe. (Inzwischen wurde sie abgesagt, Anm. d. Red.)

Dass gerade eine Branche, die immer so loyal und solidarisch tut, hier so auseinanderdriftet und Leipzig möglicherweise im Regen stehen lässt, beschäftigt und deprimiert mich heute. Unseres Erachtens nach wurde das Event verantwortungsvoll vorbereitet.

Nora Pester

geboren 1977 in Leipzig, studierte Hispanistik und Politikwissenschaften. Sie war beim Passagen-Verlag Wien und bei Matthes & Seitz Berlin tätig. Seit 2010 ist sie Verlegerin des Verlags für jüdische Kultur und Zeitgeschichte Hentrich & Hentrich. 2018 ist sie mit ihrem Verlag von Berlin zurück nach Leipzig gezogen. Der Verlag möchte das gesamte Spektrum jüdischen Lebens, Denkens und jüdischer Geschichte über alle Strömungen, Epochen und Länder hinweg abbilden.

Apropos Pandemie. Was bedeutet das für einen kleinen Verlag?

Die Unsicherheit ist vor allem mental schwierig. Rückblickend waren komplette Lockdowns fast leichter zu bewältigen, weil man sich darauf einstellen konnte. Wir sehen, dass die Resonanz vom Publikum auf analoge Veranstaltungen sehr groß ist. Trotzdem fährt man weiter mit angezogener Handbremse. Das ist fast schlimmer als die ökonomischen Unwägbarkeiten, denn umsatzmäßig sind wir ganz gut durch die Krise gekommen. Aber wir müssen auch neue Lesergruppen ansprechen. Und dazu braucht es die direkte Begegnung, auch mit jüngeren Leuten.

Sie sind ja hier in Leipzig aufgewachsen, in den letzten Zügen der DDR. Wie war das?

Meine Kindheit war unbeschwert, was auch das Verdienst meiner Eltern war, die mich geistig frei erzogen haben. Ich war zwölf, als die Mauer fiel, und das war genau richtig. Ich hatte eine behütete und gesicherte Kindheit. Ab dem Zeitpunkt, wo man sich zum erwachsenen, frei denkenden Menschen entwickelt, durfte ich das neue System der Freiheit genießen. Dann kam relativ schnell das Verlagswesen in mein Leben. Eine der wichtigsten Verlagsneugründungen zur Wende war der Forum-Verlag Leipzig. Da habe ich als 18-Jährige mein erstes Verlagspraktikum gemacht.

Wollten Sie damals schon Verlegerin werden?

Nein, gar nicht! Ich wollte in den Auswärtigen Dienst. (lacht) Ich habe nach dem Praktikum weiter in Verlagen gearbeitet, ironischerweise wollte ich es trotzdem nicht beruflich machen. Erst mit etwa 30 wurde mir klar, dass es wohl doch das Verlagswesen bleiben wird. Es ist eine gewisse Hassliebe.

Aber auch da strebte ich noch nicht an, Verlegerin oder überhaupt selbstständig zu werden. Es war Zufall, dass Gerhard Hentrich, Gründungsverleger von Hentrich & Hentrich, 2009 verstarb und es keine Nachfolge gab. Ein gemeinsamer Freund hatte mich gefragt, ob ich mir vorstellen könnte, den Verlag zu übernehmen.

Hat Sie das überrascht?

Ja schon, Hentrich und ich kannten uns nicht persönlich. Aber ich habe das noch einmal rekonstruiert, als ich die alten Verlagsunterlagen übernommen habe. Die Geschichte steht paradigmatisch für viele kleine und mittelständische Unternehmen, die einfach keine Nachfolge finden, ob Buchverlag oder Installationsbetrieb. Ich glaube, viele hatten den Eindruck, dass Gerhard Hentrich sich nicht um seine Nachfolge gekümmert hat, er war schon 85. Aber er hatte wirklich viel unternommen, um seinen Verlag in gute Hände abzugeben. Dann wurde ich ihm vermittelt, und es ging wahnsinnig schnell. Er starb dann auch sehr rasch. Ich hatte noch nicht einmal zugesagt.

Dieses Schicksal trifft viele Unternehmen, deswegen rede ich auch gerne darüber. Um ein gewisses Bewusstsein dafür zu schaffen und um jüngere Leute zu motivieren, sich auf die Selbstständigkeit einzulassen. Ich glaube, da bestehen große Ängste. Ich hatte damals schlicht keine Zeit, drüber nachzudenken, aber ich würde die Erfahrung niemals missen wollen.

Wie war denn der Sprung von der Arbeitnehmerin zur Unternehmerin?

Komplett ins kalte Wasser. Das geht nur, wenn man Menschen um sich hat, die einem vertrauen und sagen: »Du machst das jetzt, du bist jung genug; und wenn es schiefgeht, es bringt dich nicht um.« Geld alleine nützt nichts. Ich habe dieses Grundvertrauen familiär erfahren, aber auch von Autor*innen und Herausgeber*innen. Obwohl ich zwar Ahnung von der Branche, aber nicht vom Thema hatte. Ich habe dann gesagt: Ich kümmere mich um das Geschäftliche, aber ich brauche euch für die Inhalte.

Hentrich & Hentrich ist ein Verlag, der sich auf jüdische Kultur und Kulturgeschichte spezialisiert hat. Hatten Sie thematisch wirklich keine Ahnung?

Ich hatte im Studium einen Schwerpunkt »Jüdische Literatur Lateinamerikas« und habe mich viel mit Gedenk- und Erinnerungskultur beschäftigt, aber nicht professionell. Der alte Hentrich-Verlag hatte einen starken Schwerpunkt auf der Aufarbeitung des Nationalsozialismus. Ich habe 2010 entschieden, den Verlag inhaltlich für das gesamte Spektrum jüdischer Kultur und Geschichte zu öffnen: Kultur und Religion, jüdisches Denken, Philosophie.

Erinnerungskultur betrachte ich heute verstärkt aus zwei Perspektiven, die davon abhängen, was geforscht und geschrieben wird. Einerseits die Reflexion darüber, wie wir zukünftig erinnern wollen. Wir begleiten damit eine gesellschaftliche Debatte, die Erinnern und Gedenken reflektiert, auch im Kontext vom Ende der Zeitzeugen. Das andere ist das Thema Antisemitismus: Aus welchen Quellen speist er sich, und wie kann man ihm begegnen?

Während der Pandemie sind viele Verschwörungsideologien hochgeschwappt, die antisemitische Strukturen haben.

Der Antisemitismus, der im Zuge dieser Verschwörungsfantasien wieder hochgespült wurde, hat zum Teil uralte Wurzeln, so mittelalterliche Brunnenvergifterlegenden. Die Haltbarkeit hat mich überrascht. Aber ich glaube, dass auch dieser Antisemitismus nie weg war, sondern nur sichtbarer wurde.

Als ich den Verlag 2010 übernahm, habe ich mal gesagt: Wir sind jetzt im 21. Jahrhundert an dem Punkt, wo wir uns dem jüdischen Leben der Gegenwart in all seinen Facetten widmen können. Ich war naiv und dachte, ich könnte die Auseinandersetzung mit Antisemitismus irgendwie aus unserem Verlagsprogramm herausignorieren.

Ist das auch frustrierend, dass man sich immer wieder damit beschäftigen muss?

Es ist frustrierend, weil es Platz wegnimmt für aktives jüdisches Leben. Ich würde dem gerne mehr Raum geben.

Sie nehmen immer wieder an Diskussionsveranstaltungen teil. Ist das persönliches Engagement, oder gehört es für Sie zum Beruf?

Das hat sich verändert durch den Umzug von Berlin nach Leipzig. Ein stärkeres gesellschaftspolitisches Engagement ist erst in Leipzig entstanden. Das hat auch etwas mit dem Umfeld Sachsen, Ostdeutschland zu tun. Wir sind 2018 nach Leipzig gezogen, als die Ausschreitungen in Chemnitz stattfanden.

Es ist mir ein persönliches Bedürfnis, mich einzubringen. Bücher alleine reichen nicht. Wenn wir publizieren, dann um aus den Büchern heraus Debatten zu initiieren. Es braucht Formate, um andere Zielgruppen anzusprechen. Das Buch ist unser Nukleus, aus dem entspringt ganz viel. Aber es ist auch wichtig, dass man nicht dabei verharrt. Ich habe 2019 gemeinsam mit Freunden einen Verein gegründet, Netzwerk Jüdisches Leben. Es gibt viele tolle Projekte, die nicht immer in einem Buch münden, aber dennoch eine Präsentationsfläche brauchen.

Wie kam es überhaupt zu dem Umzug?

Unser Mietvertrag in Berlin endete und der neue hätte fast dreimal so viel gekostet. Ich stand vor der Frage: Höre ich auf oder beginnen wir eben noch mal komplett neu? Dann hat mich eine Professorin auf einer Konferenz in Frankfurt gefragt: »Warum gehen Sie nicht nach Leipzig? Da kommen Sie her, da finden Sie sicher einen Platz.« Das war im März 2018. Ende August sind wir umgezogen.

Also sehr schnell.

Ja, zum Glück ist das Team mitgezogen. Damals habe ich nicht überblickt, wie stark das unsere Arbeit beeinflussen wird. Ein Verlagsstandort ist mehr als nur ein Standort. Man geht in Interaktion mit der Stadtgesellschaft. Und da ist Leipzig anders als Berlin. Berlin ist sehr gesättigt, und aufgrund des riesigen Angebots stehen nicht immer alle Türen offen. Leipzig nenne ich immer die Stadt der kurzen Wege, räumlich und menschlich. Das Interesse war von Anfang an so groß, dass wir ganz schnell ein Netzwerk gefunden haben.

Gleichzeitig sind wir auch mit der Erwartung konfrontiert, uns über unsere eigentliche Arbeit hinaus zivilgesellschaftlich zu engagieren. Ich schätze das aber, weil man über das eigentliche Produkt hinaus als Akteur ernst genommen wird.

Gab es auch mehr Konfrontationen?

Das werde ich oft gefragt, und es fällt mir schwer das zu beantworten, weil durch die Pandemie, die uns anderthalb Jahre nach unserem Umzug einholte, natürlich viel Präsenz weggefallen ist. Wenn wir Anfeindungen erlebt haben, auch vor Leipzig, dann meist im öffentlichen Raum.

Hat der thematische Schwerpunkt auf jüdische Kultur Ihren Bezug zu Ihrer Arbeit verändert?

Den Bezug zu meiner Arbeit, aber auch zu bestimmten kulturellen Mustern! Bevor ich den Verlag übernommen und mich mehr mit jüdischer Kultur beschäftigt habe, war mir der positive Wert von Debatte und Streit in dieser Dimension nicht bewusst. In den ersten Jahren wollte ich immer, dass sich alle mit unseren Büchern wohlfühlen und dass wir alles richtig machen. Dann habe ich gemerkt, dass gerade in der jüdischen Kultur der Diskurs, die Debatte, auch der argumentative Streit ganz wichtige Güter sind und dass man dem nicht aus dem Weg gehen muss. Ich würde eher sagen, dass die Arbeit an diesem Thema meinen Blick auf kulturelle Kompetenzen stark verändert hat.

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