Was Satelliten nicht zeigen

Hochgerüstetes Europa: Propaganda – hier wie da – führt zu Zerrbildern

  • René Heilig
  • Lesedauer: 4 Min.

Uns erreichen Satellitenfotos russischer Militärdepots. Die sind reichlich gefüllt. Wahlweise werden mal 170 000, mal »nur« 100 000 russische Soldaten nahe der Grenze zur Ukraine vermutet. Wie angriffsfähig sind sie objektiv? Auffällig ist, dass wesentlich mehr Technik vorhanden ist als Unterkünfte für deren Besatzungen. Wo sind die Lager für Munition, Treibstoff, Verpflegung? Schneefall hilft zu erkennen, dass nur einige der Baracken und Zelte belegt sind. Oft fehlen Fahrzeugspuren, die auf Betrieb hinweisen. Satellitenbilder von Militärflugplätzen, auf denen Transporter, Kampfjets und Hubschrauber stehen, sind ebenso rar. Dafür werden kurze Videos aus nicht überprüfbaren Quellen in Endlosschleife gezeigt. Was verraten die Twittereien über Kolonnen, wohin gehen die gefilmten Eisenbahntransporte?

Stutzig macht, dass sogar mehr oder weniger selbst ernannte Fachleute nach dem Abschuss von Flug MH 17 den Weg einzelner Raketensysteme quer durch Russland bis in den Donbass medial verfolgen konnten. Nun jedoch ist es nicht möglich, den Verbleib ganzer Einheiten aufzuklären? Von westlichen Medien gern genommen werden Sequenzen vom russischen Militär-TV. Gezeigt um innere Stärke zu signalisieren, sind sie als Rechtfertigung westlicher Aufrüstung hochwillkommen.

Spaß und Verantwortung

Olga Hohmann versteht nicht, was Arbeit ist und versucht, es täglich herauszufinden. In ihrem ortlosen Office sitzend, erkundet sie ihre Biografie und amüsiert sich über die eigenen Neurosen. dasnd.de/hohmann

Gibt es eigentlich noch das Radarsatelliten-Aufklärungssystem der Bundeswehr, das tageszeit- und wetterunabhängig Daten sammeln kann? Dass der extra für den Open-Skies-Einsatz angeschaffte deutsche Aufklärungs-Airbus nur Corona-Patienten verlegen hilft, ist nicht die Schuld der Bundeswehr. Der 2002 in Kraft getretene und von 34 Staaten signierte Vertrag zur gegenseitigen legalen Beobachtung militärischer Aktivitäten wäre jetzt so wertvoll wie nie. Doch die USA haben dieses Instrument der Vertrauensförderung aufgekündigt.

Russland ist nicht allzu freizügig mit Informationen über seine militärischen Operationen. Ist der Westen offener? Die Nato ist – ganz gegen die Interessen Moskaus – einiger, gestärkter und einsatzfähiger. Gerade haben die 30 Mitgliedstaaten den massiven Ausbau ihrer Präsenz im östlichen Bündnisgebiet auf den Weg gebracht. Aber wieso redet man immer nur über die aus anderen Allianzstaaten herangeführten Verstärkungskräfte? Wieso wird das Potenzial der Ukraine und das der gastgebenden Nato-Nationen gänzlich ausgeblendet? Allein Polen verfügt über 160 000 solide ausgerüstete und ausgebildete Soldatinnen und Soldaten plus Reserve.

Lesen Sie auch den Kommentar »Der Krieg scheint gesetzt«
von Daniel Lücking

Nach der russischen Okkupation der Krim schickte die Nato 2017 vier multinationale Kampfgruppen von jeweils gut eintausend Soldaten und Soldatinnen an die Ostflanke der Allianz. Die sogenannte Enhanced Forward Presence Battle Group (EFP) in Polen wird von den USA geführt. US-Präsident Joe Biden hat knapp 5000 Soldaten in das Land beordert. Seit Tagen besteht eine regelrechte Luftbrücke nach Polen, US-Hubschrauber aus Deutschland nach Osten verlegt. Auch Großbritannien verstärkt seine Truppe.

Drei weitere EFP sind in den drei baltischen Republiken stationiert. Die in Litauen wird von der Bundeswehr geführt, die ihre rund 600 Soldaten jetzt durch weitere 350 ergänzt. In Rumänien, das selbst über 70 000 Soldaten verfügt, sind bereits rund eintausend US-Soldaten der 2. Infanteriedivision stationiert. Ein zusätzliches, in Deutschland stationiertes Stryker-Regiment ist im Anmarsch. Massiv verstärkt die Nato ihre Luftraummission im Schwarzmeer- und Ostseeraum.

In Estland und Litauen operieren neben belgischen, US-amerikanische und polnische Jets, in Rumänien italienische und deutsche. B 52 Bomber kreisen wieder über Europa. Lange sträubte sich die Slowakei, doch nun stellt sie den USA zwei Flugplätze zur Verfügung. Auch Norwegen und Dänemark lassen US-Soldaten ins Land. Völlig unbekannt sind die Cyberkriegsfähigkeiten beider Seiten. Oft vergessen wird bei der Auflistung der Einsatz von bemannten und unbemannten Aufklärungsmitteln. Die USA lassen einige sogar über der Ukraine fliegen. Zudem gibt es umfangreiche Luftbetankungsübungen. Sie ermöglichen den Fronteinsatz von Kampfjets von Trägern der USA, Frankreichs und Italiens, die im Mittelmeer schwimmen.

Noch offen ist auch, ob Elemente der 40 000 Soldaten starken Response Force (VJTF) 2023 nach Osteuropa entsandt werden. 2023 wird sich die Bundeswehr mit 16 800 Militärs an der VJTF beteiligen.

Europa ist unter Hochspannung. Auf lange Sicht. Jedes Missverständnis kann – wie im Kalten Krieg – Massenmord bedeuten. Selbst wenn es in den kommenden Monaten gelingt, die in sich politisch verkeilten Kontrahenten zur Vernunft zu bringen – der Weg zur Rückführung der vorgeschickten Militärpotenziale wird ohne den nachhaltigen Aufbau neuer Vertrauensstrukturen nicht klappen.

Werde Mitglied der nd.Genossenschaft!
Seit dem 1. Januar 2022 wird das »nd« als unabhängige linke Zeitung herausgeben, welche der Belegschaft und den Leser*innen gehört. Sei dabei und unterstütze als Genossenschaftsmitglied Medienvielfalt und sichtbare linke Positionen. Jetzt die Beitrittserklärung ausfüllen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.