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  • Politik
  • Justiz gegen Flüchtlinge

Auf gefährliche Routen gezwungen

In Griechenland werden nach Bootsunglücken Flüchtlinge kriminalisiert und mit extrem hohen Strafen belegt

  • Elisabeth Heinze, Thessaloniki
  • Lesedauer: 5 Min.

Nach Italien sollte es gehen. Von der türkischen Küste aus, in der Gegend von Izmir-Çeşme, startete eines von vielen solcher Boote. Mehr als 80 Flüchtlinge waren an Bord. Am Heiligen Abend kenterte es vor der Insel Paros. Im neuen Jahr wurden mehrere Leichen an die Strände des kykladischen Tourismusmagnets gespült. Drei Verdächtige, die für das Unglück verantwortlich gemacht werden, befinden sich derzeit in Untersuchungshaft auf der griechischen Insel Chios.

Die Anklage lautet auf Menschenschmuggel, Verschuldung des Todes von 18 Personen und Gefährdung des Lebens der weiteren Passagiere durch Schiffbruch sowie die Beteiligung an einer kriminellen Vereinigung. Zeugenaussagen zufolge hatten die drei Personen an Bord die Rolle des Kapitäns, des Mechanikers und seines Assistenten - allerdings vermutlich unfreiwillig und ohne Schifffahrtskenntnisse zu besitzen. Ihre Identität wollen sie vor der Öffentlichkeit verborgen halten. Sie stünden noch unter Schock und es sei «für sie schwer zu verstehen, wie sie im Gefängnis landen konnten». Sie hätten niemandem vorsätzlich schaden wollen und seien nicht auf Profit aus gewesen«, erklärt Dimitris Choulis, einer ihrer Verteidiger gegenüber »nd«. Seit mehr als einem Jahrzehnt befasst sich der Anwalt aus Samos mit Fällen des Menschenschmuggels. Seine Klienten hätten noch versucht, die Mitreisenden zu retten und sich freiwillig der Polizei gestellt, betont er.

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Unmittelbar nach den »weihnachtlichen« Bootsunglücken hatte der griechische Schifffahrtminister Giannis Plakiotakis von der konservativen Nea Dimokratia (ND) Schleuser als »skrupellose Killer« bezeichnet. Diese würden die Menschen ohne Schutzwesten in seeuntaugliche Boote stopfen. Migrationsminister Notis Mitarakis twitterte: »Griechenland rettet weiter Leben auf See und bekämpft Schleppernetzwerke. Es reicht!« Mitarakis forderte die Türkei auf, ihre Anstrengungen zu verdoppeln, um das »illegale Ablegen« an der dortigen Küste zu verhindern.

So schieben sich die Politiker beider Länder schon seit Jahren gegenseitig die Verantwortung für das Sterben an der EU-Grenze zu. Mitarakis zeigte auf die Türken und feierte zugleich das Jahr 2021 als eines mit den »niedrigsten Migrationsströmen seit Beginn der Krise«, deren Beginn er auf das Jahr 2015 datiert. Die Ziele der konservativen Regierung Griechenlands benennt der Minister deutlich: Fluchtbewegungen ins eigene Land sollen möglichst unterdrückt werden.

Julia Winkler von der Nichtregierungsorganisation Borderline Europe kritisiert, dass solche empörten Kampfansagen gegen kriminelle Schleusernetzwerke »unter einem humanitären Deckmantel als Schutzmaßnahme für Flüchtende deklariert« würden. Dabei seien »Schmuggler*innen ein Symptom dieser Entwicklung und nicht ihre Ursache«, betont Winkler. Bereits seit 2007 engagiert sich ihre Organisation für die Wahrung der Menschenrechte an den EU-Außengrenzen und für faire Gerichtsprozesse gegen Flüchtlingshelfer. Auch damals starben Tausende beim Versuch, nach Europa zu gelangen - nur nahm die Öffentlichkeit weniger Notiz davon. Ohne Hilfe in Anspruch zu nehmen, ist eine Flucht in die EU nach wie vor kaum möglich.

Schnell hatten nach der Katastrophe von Paros griechische Medien die Summe von 9000 Euro als Preis für die gefährliche Überfahrt kolportiert. Nach Zeugenaussagen soll der Betrag, der an die Schlepper für den Transport über Italien bis zum endgültigen Ziel Holland gezahlt wurde, jedoch nur 500 Euro pro Person betragen haben.

Doch wer sind die Schlepper, die die Menschen über die Grenzen schmuggeln? Bei den Inhaftierten im Zusammenhang mit der Bootstragödie von Paros soll es sich um einfache Passagiere gehandelt haben, denen die Ressourcen fehlten, selbst für ihre Reise aufzukommen. Für sie habe es kein Zurück gegeben, erläutert ihr Anwalt Choulis: Die Schmuggler, bewaffnete Männer, hätten sie in einem Haus festgehalten und zur Teilnahme an der Überfahrt und ans Steuer des Boots gezwungen, das anfangs von einem weiteren Fahrzeug begleitet worden sei. Das Boot sei auf die türkische Küstenwache getroffen, die den Flüchtenden die Weiterfahrt gestattet habe, schildert er den Ablauf.

Es ist kein Novum, dass in so gelagerten Fällen besonders die Schiffsführer mit hohen Strafen zu rechnen haben. Gegen den Steuermann Mohamad H. wurde im Mai 2021 eine Haftstrafe von 142 Jahren verhängt. Zwei Frauen waren ums Leben gekommen, als er im vorangegangenen Dezember mit 31 weiteren Personen an Bord mit seinem Boot auf See gekentert war. Im Mai 2022 beginnt das Verfahren gegen einen Mann, der ebenfalls mutmaßlich gezwungenermaßen ein Boot gesteuert hatte, welches im November 2020 vor Samos verunglückte. Seine Haftstrafe könnte sich auf mehr als 200 Jahre belaufen. Auch der Vater eines sechsjährigen Jungen, der bei dem Unglück zu Tode kam, steht unter Anklage. Wegen Kindeswohlgefährdung drohen ihm 10 Jahre Gefängnis. Der griechischen Küstenwache wirft er unterlassene Hilfeleistung vor. Eine von zahlreichen NGOs unterstützte Onlinepetition mit dem Hashtag Samos2 setzt sich für ein faires Verfahren und die Freilassung der beiden Flüchtlinge aus Afghanistan ein. Der Fall von Paros könnte die anderen im Strafmaß noch deutlich überbieten. Die Staatsanwaltschaft fordert 18-mal lebenslänglich und 10 Jahre Haft pro Passagier, insgesamt würde sich das auf 600 Jahre Haft summieren. Ein Termin für den Beginn des Prozesses steht noch nicht fest.

Julia Winkler von Borderline Europe sieht in solchen Anklagen gegen auf den griechischen Inseln ankommende Menschen »eine systematische Kriminalisierung«. Sie seien ein direkter Angriff auf das Asylrecht. Außerdem werde alles getan, damit Menschen ihr Recht, einen Asylantrag zu stellen, in der Praxis nicht wahrnehmen könnten. Die vielfach dokumentierte Taktik der Pushbacks, dem Zurückdrängen von Geflüchteten in türkisches Hoheitsgebiet, bevor sie einen Fuß auf griechischen Boden setzen können, führt dazu, dass Boote stattdessen das ferner gelegene Italien ansteuern. Die Verschiebung der Routen erhöht die Risiken für die Flüchtenden. »Wenn es die Möglichkeit gegeben hätte, auf legalem Wege und ohne Gefahr eines Pushbacks nach Griechenland zu kommen, dann hätten sie diese wahrgenommen«, sagt Anwalt Choulis zum Paros-Fall. »Welchen Grund hätten sie sonst gehabt, an so vielen Inseln vorbeizufahren?«

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