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Unsere Vergewaltigungskultur
Mit »Sie lügt, weil...« wird immer wieder versucht, Vorwürfe sexualisierter Gewalt herunter zu spielen. Sibel Schick hat die wiederkehrenden Scheinargumente auseinander genommen
Der US-Rapper Snoop Dogg wurde wegen Vergewaltigung angezeigt. Die Klägerin sei Tänzerin bei dem Rapper gewesen, berichtet das Musikmagazin »Rolling Stone«. Nach einer Show hätten Snoop Dogg und sein Kollege Bishop John »Magic« Juan die Frau vergewaltigt, so der Vorwurf. Der genannte Zeitpunkt liegt fast zehn Jahre zurück, die Anzeige wurde vergangene Woche eingereicht. Snoop Dogg äußerte sich selbst nicht zu den Vorwürfen, postete allerdings einen Tag zuvor einen Post auf Instagram, in dem er vor einer »gold digger season« warnte, also einer Zeit für Frauen, die auf das Geld eines reichen, oft älteren Mannes aus sind. Laut Medienberichten sei damit die Tänzerin gemeint.
So wie bei jedem öffentlichkeitswirksamen Verfahren sexuellen Übergriffs gegen berühmte Männer scheint das Internet auch diesmal Schaum vorm Mund zu haben. Nicht nur der Beschuldigte behauptet, die Frau würde lügen. Jegliche Günthers und Johanns verbreiten auf Social Media und in den Kommentarspalten traditioneller Medien ihre Verschwörungstheorien. Diese variieren, doch keine davon ist neu. Hier ist eine Liste dieser Scheinargumente - und warum sie nicht haltbar sind.
1. »Sie lügt, weil es Falschbeschuldigungen gibt.«
Nun ja, es gibt Menschen, die lügen. Aber bevor es eine Verhandlung gibt, gleich »Falschbehauptung« zu schreien, ist keine Erinnerung an die Unschuldsvermutung. Diese braucht keine Erinnerung, denn sie ist Fundament des juristischen Systems.
Vielmehr handelt es sich um eine Machtdemonstration nach dem Motto: »Wir haben die Deutungshoheit darüber, was eine Vergewaltigung ist.« Mit einem geringen Anteil von gerade mal drei Prozent aller zur Anzeige gebrachten Vergewaltigungen haben Falschbehauptungen nämlich nicht die Relevanz, ständig ausdiskutiert zu werden.
2. »Sie lügt, weil es lange zurückliegt.«
Das Problem bei sexualisierter Gewalt ist oft das Nachspiel. Betroffene werden in vielen Fällen traumatisiert, es kann Jahre dauern, bevor sie darüber sprechen können. Die Erwartung, nach einem sexuellen Übergriff direkt zur Polizei zu gehen, verkennt das. Sie verkennt auch Menschen, die niemals oder erst Jahre später anzeigen können, weil sie beispielsweise durch rassistische Grenzpolitik kriminalisiert werden oder irgendwie vom Täter abhängig sind. Sich von einem gewaltvollen Zusammenhang zu befreien, ist kein entspannter Spaziergang.
3. »Sie lügt, weil der Mann reich ist.«
Aka »gold digger«: Dieser Vorwurf will das Opfer diskreditieren und als Täter*in hinstellen. Es ist eine Schuldumkehr, um den Täter zu schützen. Er wird nämlich selbst bei reichen Betroffenen formuliert: Als die Schauspielerin Amber Heard von den Schlägen des Schauspielers Johnny Depp berichtete, war genau das die öffentliche Reaktion. Dabei hat Heard selbst ein großes Vermögen.
4. »Sie lügt, weil der Mann keine Vergewaltigung nötig hat.«
Dieses Argument suggeriert, dass Vergewaltigung keine Gewalt, sondern Sex sei und solange Menschen ausreichend Sex haben, keine Vergewaltigung stattfinden würde. Das ist eine Verharmlosung von sexualisierter Gewalt, weil sie - wie bereits am Begriff zu erkennen - kein Sex ist, sondern Gewalt. Es geht nicht darum, eine schöne Erfahrung zu teilen, sondern Macht über eine Person auszuüben, sie zu erniedrigen.
5. »Sie lügt, weil es keine Zeug*innen gibt.«
Sexualisierte Gewalt findet in der Regel hinter verschlossenen Türen, ohne Anwesenheit von Zeug*innen statt. Zeug*innen vorauszusetzen und von ihrem Nicht-Vorhandensein eine Falschbeschuldigung zu konstruieren, ist daher eine Sackgasse, in die Betroffenen bewusst geführt werden.
6. »Sie lügt, weil sie ihre Behauptung nicht belegen kann.«
Das Argument klingt vielleicht plausibel, aber: Einen sexuellen Übergriff nicht beweisen zu können, ist nicht dasselbe wie eine Falschbeschuldigung. Ein Übergriff kann aus unterschiedlichsten Gründen nicht belegbar sein.
7. »Sie lügt, weil sie eine Nutte ist.«
Als dürfe man Nutten vergewaltigen? Nein! Jeder Mensch hat ein Recht auf Schutz vor Gewalt und auf körperliche und seelische Unversehrtheit. Ich finde, dieser Satz müsste als Volksverhetzung gelten.
Männlichkeitsbonus beenden - Wenn sich Idole als Täter rausstellen, muss das Konsequenzen haben. Auch im Verhalten der Fans.
Beim Schutz des (mutmaßlichen) Täters geht es im Grunde nicht um einzelne Beschuldigte. Es geht darum zu verhindern, dass Betroffene Gerechtigkeit erfahren. Indem Betroffene kollektiv zu Täter*innen erklärt werden, wird die öffentliche Thematisierung der erlebten Gewalt zu einer Mutprobe. Massenhaft beschuldigt, diskreditiert und angegriffen zu werden, ist viel gewaltiger, als mit Vergewaltigung beschuldigt zu werden. Nach einer Gewalttat die Stimme zu erheben, wird schwieriger gemacht, als Gewalt auszuüben. Was ist das, wenn keine Vergewaltigungskultur?
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