Mutschöpfen in der »Nudelbude«

Wie Mitarbeiter der Teigwarenfabrik Riesa einen Betriebsrat gründeten und damit auch Wendefrust abbauten

  • Hendrik Lasch
  • Lesedauer: 7 Min.

Welche Eigenschaften braucht es, damit jemand Betriebsrat wird? Auf die Frage gibt es etliche Antworten. Selbstbewusstsein ist von Vorteil, wenn mit Managern verhandelt wird. Ein offenes Ohr ist nützlich, wenn es darum geht, Sorgen von Kollegen zu erspüren. Ein gutes Gedächtnis für Paragrafen schadet sicher nicht. Die wichtigste Eigenschaft aber ist eine ganz andere, sagt Anja Reisky, die 2018 zu den Mitbegründerinnen des ersten Betriebsrats bei der Teigwaren Riesa GmbH gehörte: »Was vor allem nötig ist, ist Mut.«

Die Aussage wirkt auf den ersten Blick befremdlich. Betriebliche Mitbestimmung ist in der Bundesrepublik seit vielen Jahrzehnten etabliert; die geltende Fassung des Betriebsverfassungsgesetzes, in dem ihre Grundsätze geregelt sind, wurde jetzt 50 Jahre alt. Dass Betriebsräte die Interessen von Beschäftigten artikulieren, genießt zudem höchste politische Anerkennung. Es zeige, dass »Arbeitnehmer nicht bloße Befehlsempfänger sind«, sagte Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier kürzlich auf einer Gewerkschaftskonferenz. Mitbestimmung habe ein »urdemokratisches Motiv«, fügte er hinzu, und gebe »Menschen eine Stimme«.

Unterschätzte Abstimmung

Sie gehört zu den eher unterschätzten Abstimmungen in der Bundesrepublik: die Wahl der Betriebsräte, die alle vier Jahre stattfindet. Bald ist es wieder so weit: Vom 1. März bis 31. Mai werden nach Angaben des DGB die Betriebsräte in rund 28 000 Betrieben gewählt.

Es könnten viel mehr sein: Aktuell gibt es nur in neun Prozent aller Betriebe, in denen ein Betriebsrat zulässig wäre, tatsächlich ein solches Gremium. Die Zahl ist leicht rückläufig; vor 20 Jahren waren es zwölf Prozent. Vor allem in Betrieben mit weniger als 50 Mitarbeitern sind Arbeitnehmervertretungen die Ausnahme. Von den Betrieben mit 50 bis 500 Mitarbeitern hat etwa jeder zweite einen Betriebsrat, bei jenen mit mehr als 500 Beschäftigten sind es sogar über 90 Prozent, wie aus dem Betriebspanel des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) hervorgeht. Das hat zur Folge, dass der Anteil der Beschäftigten, die in einem Betrieb mit Betriebsrat arbeiten, doch recht ansehnlich ist. Er beträgt 40 Prozent im Westen und 36 Prozent im Osten der Republik. Forscher merken an, dass die Zahlen aus Stichproben stammen. Ein verpflichtendes Melderegister gibt es bisher nicht.

Betriebsräte, so argumentieren die Gewerkschaften, nützen Beschäftigten und Firmen. Einer Studie der Hans-Böckler-Stiftung zufolge steigt in Betrieben mit Betriebsrat die Produktivität um knapp 13 Prozent, die Löhne um 8,4 Prozent - und die Gewinne um 14 Prozent. Viele Unternehmer sehen das nicht so. Als 1972 über die bis heute geltende Novelle des Betriebsverfassungsgesetzes gestritten wurde, warnten Unternehmerverbände vor »Vergewaltigung«. Die harte Gegenwehr verwundert nicht, schließlich werde eine »Machtfrage« aufgeworfen, schreibt Johanna Wenckebach, wissenschaftliche Direktorin am Hugo-Sinzheimer-Institut der Böckler-Stiftung, in einem aktuellen Aufsatz: Wo ein Betriebsrat sei, könne die Unternehmerseite »nicht durchregieren«.

Um die Rechte der Betriebsräte und ihre Arbeitsbedingungen wird deshalb stets heftig gerungen. Es geht um Fragen der Freistellung, um Bereiche, in denen eine Mitsprache möglich ist, und auch um den Schutz vor Kündigung für Mitarbeiter, die Betriebsräte gründen oder sich in diese wählen lassen wollen. Das Gesetz von 1972 brachte zwar Verbesserungen, doch noch immer gibt es Störmanöver und Repressalien von Unternehmerseite. Die Berliner Ampelkoalition will laut Koalitionsvertrag daher die Behinderung der Wahlen und der Arbeit von Betriebsräten als Offizialdelikt einstufen. Der DGB fordert, dass die gesetzlichen Regelungen auch an anderer Stelle an aktuelle Anforderungen angepasst werden sollten. 50 Jahre nach Inkrafttreten des aktuellen Gesetzes sei es, wie DGB-Chef Reiner Hoffmann formuliert, »Zeit für eine erneute umfassende Reform«. Hendrik Lasch

Jenseits feierlicher Reden sieht die Realität trister aus. Bundesweit gibt es nicht einmal in jedem zehnten Unternehmen einen Betriebsrat. Deren Gründung sei noch immer ein »umstrittenes Unterfangen«, erklärt das wirtschafts- und sozialwissenschaftliche Institut (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung. Entsprechende Anläufe würden in 15,6 Prozent der Fälle behindert, von diesen scheitert denn auch ein Drittel. Oft werden Initiatoren eingeschüchtert oder, wenn ihr Plan zu früh bekannt wird, sogar gekündigt. Reisky und ihre Mitstreiter setzten ihr Vorhaben in Riesa daher um wie eine Geheimoperation: Das erste Treffen mit dem Gewerkschafter Thomas Lißner, der sie beraten und unterstützen sollte, fand 30 Kilometer entfernt in einem anonymen Schnellrestaurant statt. Sie hätten sich, räumt Reisky ein, damals »schon gefragt, was mit uns wird, wenn es schief geht«.

Andererseits war der Leidensdruck in dem ostdeutschen Traditionsbetrieb, den die Beschäftigten liebevoll-ironisch »Nudelbude« nennen, enorm, wie Reiskys Betriebsratskollegin Anke Kühne sagt. Sie stieg vor 22 Jahren in der Firma ein - zu einem Stundenlohn, der »bei D-Mark-Preisen gar nicht so schlecht aussah«. Die Zufriedenheit hielt indes nicht lange an. Dafür sorgten nicht zuletzt Betriebsfeiern mit Kollegen aus dem Westen. Das Riesaer Werk ist Teil der Albgold-Gruppe, eines familiengeführten Unternehmens mit weiteren zwei Werken in Schwaben. Dort gibt es, wie sich im Gespräch mit Kollegen herausstellte, Nachtschichtzuschläge von 25 Prozent, in Riesa nur 10 bis 15 Prozent. Auch die Stundenlöhne sind viel niedriger; die Lohnlücke wird auf rund 800 Euro beziffert. Jahrelang blieben in Riesa zudem Investitionen aus; Maschinen wurden auf Verschleiß gefahren; Leistungszuschläge willkürlich gekürzt. Die Folge war Unzufriedenheit. Jüngere Kollegen kehrten der Firma den Rücken; ältere, die Riesa wegen der Familie oder des eigenen Hauses nicht verlassen konnten, schoben Frust: »Die Stimmung war am Boden«, sagt Kühne.

Es gab freilich Zeiten, in denen auch eine miese Stimmung nicht zur Gründung einer Interessenvertretung geführt hätte. So war vor allem in den 1990er Jahren mit ihren hohen Arbeitslosenzahlen in Ostdeutschland die Angst vor dem Verlust des Jobs übermächtig: »Man war ja froh, wenn man überhaupt etwas hatte«, sagt Reisky. Die Folge: Unternehmen in Sachsen, viele davon mit westdeutschen Eigentümern, zahlten nur so viel wie unbedingt nötig; die CDU-Landesregierung sah Niedriglöhne als Standortvorteil. Gewerkschaftliches Engagement und betriebliche Mitbestimmung waren verpönt. Im Teigwarenwerk Riesa waren noch Anfang 2018 gerade einmal vier der rund 180 Beschäftigten in der Gewerkschaft Nahrung, Genuss, Gaststätten (NGG) organisiert. Die Folgen jener Politik wirken bis heute nach. Sachsen sei, heißt es beim DGB, das bundesweite Schlusslicht bei Mitbestimmung und Tarifverträgen. Letztere greifen für gerade einmal 40 Prozent der Beschäftigten.

Zudem wirkt in Belegschaften womöglich eine DDR-Sozialisation nach, die Konflikte eher scheut, auf gütliche Einigung setzt und freiwillige Zugeständnisse der Geschäftsführung erhofft: »Man wollte ja nicht gleich mit Betriebsrat und Streik drohen«, sagt Kühne. Der versöhnliche Kurs zeitigte freilich kaum Erfolge: »Immer wieder gab es auf Betriebsversammlungen höfliche Anfragen, aber passiert ist immer wieder nichts.«

Im Frühjahr 2018 schließlich lief in der Riesaer »Nudelbude« das Fass über. Wie viel Druck auf dem Kessel gewesen war, zeigt sich im rasanten Tempo, mit dem der Betriebsrat gegründet wurde. An einem Freitag hatten die drei Initiatoren mit Gewerkschafter Lißner zusammen gesessen, der zuständiger Sekretär der NGG in der Region ist. Am folgenden Montag lud dieser zu einer Versammlung ein, auf der ein Wahlvorstand bestimmt werden sollte. Diese fand schon zehn Tage später statt. Als der siebenköpfige Betriebsrat kurz darauf tatsächlich gewählt wurde, beteiligte sich die Belegschaft fast geschlossen: 138 von 142 Wahlberechtigten gaben ihre Stimme ab. Parallel dazu schoss die Zahl der Gewerkschaftsmitglieder in die Höhe. Nach fünf Monaten waren es 100; heute liegt der Organisationsgrad bei 85 Prozent.

Für die frisch gewählten Betriebsräte war die Wahl ein Sprung ins kalte Wasser: »Wir waren ja alle Laien«, sagt Anja Reisky. Zugleich waren die Erwartungen, die man im Betrieb mit der Gründung des Betriebsrates verband, groß. »Es sollte endlich Gerechtigkeit zwischen Ost und West geben«, sagt Anke Kühne: »Wir wollten uns nicht mehr wie Menschen zweiter Klasse fühlen.« Folglich machten die neuen Arbeitnehmervertreter zügig Nägel mit Köpfen. Im September forderten sie die Geschäftsführung zu Tarifverhandlungen auf. Als diese ablehnte und mitteilte, man wolle nicht mit »Dritten« - gemeint war die Gewerkschaft NGG - verhandeln, kam es zum ersten Warnstreik, auf den binnen sechs Monaten sechs weitere folgten.

Der Arbeitskampf bei der Teigwaren Riesa GmbH sorgte überregional für Schlagzeilen - und schuf in der Belegschaft ein bis dahin ungekanntes neues Gefühl von Einfluss und Zusammenhalt: »Manche Kollegen hat man vorm Werkstor erst richtig kennen gelernt«, sagt Kühne. Dabei war die Abwägung nicht einfach. Ein Ausstand ist, auch wenn es Streikgeld von der Gewerkschaft gibt, mit finanziellen Einbußen verbunden. Im Betrieb arbeiten viele alleinerziehende Frauen, für die es »ein echtes Problem ist, nichts zu haben und dann noch etwas weggenommen zu bekommen«, sagt Reisky. Dennoch gab es in der Belegschaft viel Rückhalt für die Streiks - die Wirkung zeigten: Im Mai 2019 wurde ein Manteltarifvertrag geschlossen, später gab es eine Einigung zu Löhnen und Gehältern.

Für die Beschäftigten, darin ist man sich heute in Riesa einig, hat es sich gelohnt, dass einige Engagierte ihren Mut zusammen genommen und den Betriebsrat gegründet haben. Zwar habe es auch Rückschläge gegeben, sagt NGG-Sekretär Lißner. So wurde das »Nudelcenter« ausgegliedert, eine Schaumanufaktur, die zu den ansonsten eher spärlich gesäten touristischen Attraktionen der Stadt Riesa zählt, aber zeitweise gar vor der Schließung stand. Auch heikle Momente habe es gegeben, etwa, als die Geschäftsführung ein Lohnplus von sieben Prozent versprach, unter der Bedingung, dass die Mitarbeiter auf einen Tarifvertrag verzichten. Er sei sich, räumt Lißner ein, nicht sicher gewesen, ob da »die Einheit der Belegschaft ins Wanken kommt«. Sie wankte nicht.

So kann der Aufbruch in der »Nudelbude« heute als Inspiration dienen: »Das ist ein Impulsgeber für Konflikte in anderen Firmen«, sagt Lißner. Er glaubt, dass in Riesa »auch ein Stück Wendefrust verarbeitet und in Aufbruchstimmung umgewandelt wurde«. Es sei das Gefühl entstanden, »etwas bewegen zu können«. Das hält auch bei Reisky und Kühne an. Wenn im Teigwarenwerk Riesa, wie in rund 28 000 weiteren Betrieben in Deutschland, ab Anfang März die Betriebsräte neu gewählt werden, bewerben sich beide erneut um das Amt. Dieses sei nützlich für die Kollegen - aber nicht nur für diese. »Unternehmen können froh sein, wenn ihre Mitarbeiter Probleme lösen und nicht nur Dienst nach Vorschrift leisten wollen«, sagt Anja Reisky. »Wir tragen zum Betriebsfrieden bei«, sagt Anke Kühne. Und womöglich sogar zur Lösung des Fachkräfteproblems, ließe sich anfügen: Manche Neueinsteiger, sagt Reisky, »fangen bei uns an, weil es einen Betriebsrat gibt und die Dinge damit gut geregelt sind.«

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