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»Zero Covid war eurozentristisch und extrem staatsfixiert«
Karl Heinz Roth über das katastrophale Corona-Krisenmanagement und die Lehren aus der Pandemie für die Linke
Vor der Corona-Pandemie hätte vermutlich niemand daran gedacht, eine solche Frage zu stellen: Aber womit wurden Sie geimpft?
Meine Grundimmunisierung habe ich mit Biontech bekommen, meine dritte Impfung mit Moderna. Aber ich habe auch das Privileg, Medizin studiert zu haben und mich deshalb wissenschaftlich fundiert mit den Impfstoffen auseinandersetzen zu können.
Und das nahm Ihnen die Unsicherheit gegenüber dem Impfen?
Die Methode, bei der bei den neuen Corona-Impfstoffen Genabschnitte des Spikeproteins des Erregers mit Hilfe von Genfähren oder direkt durch Boten-RNA in den menschlichen Organismus eingeschleust werden, kenne ich bereits aus der Krebstherapie und bin ihr gegenüber deswegen positiv eingestellt.
Andere Menschen sind da verunsicherter. Noch immer ist etwa ein Viertel der Bevölkerung in Deutschland nicht geimpft.
Bei der Impfkampagne wurden viele Fehler gemacht. Es wurde zu wenig über die teilweise gravierenden Nebenwirkungen aufgeklärt und gleichzeitig nur auf die High-Tech-Impfstoffe der westlichen Biotechnologie- und Pharmaunternehmen gesetzt. Das verunsicherte viele Menschen. Stattdessen hätte man nicht auf einen Impfnationalismus setzen und von Anfang an auch traditionelle Totimpfstoffe einführen sollen.
Teilen Sie also Vorbehalte der Impfskeptiker*innen und -gegner*innen gegenüber den modernen Impfstoffen?
Ich entschuldige keinen Mediziner, der bei der »Querdenker«-Kampagne Falschinformationen verbreitet. Es müsste aber viel besser aufgeklärt und kommuniziert werden, was die Wirksamkeit und Wirkungsweise der Impfstoffe anbelangt.
Wie meinen Sie das?
Wenn schon drei Viertel der Bevölkerung geimpft sind, bringt die Einführung eines Impfzwangs aus epidemiologischer Sicht eigentlich nichts, ganz abgesehen von den damit verbundenen ethischen Grenzüberschreitungen. Zudem sind nicht alle Impfskeptiker komplett gegen das Impfen. 30 Prozent von ihnen könnten vielleicht mit einem traditionellen Totimpfstoff überzeugt werden.
Wurden nicht auch Fehler bei der internationalen Verteilung der Impfstoffe gemacht?
Ja, gravierende Fehler. Bei der Bekämpfung der Pandemie sollte es weniger darum gehen, hierzulande die Impfquote durch Zwangsmaßnahmen von 75 auf 80 Prozent zu erhöhen. Stattdessen braucht auch der Globale Süden genügend Impfstoffe. Seine Unterversorgung hat sich bereits für den globalen Norden gerächt.
Inwiefern?
Die ungleiche Verteilung der Impfstoffe hat zu einer unnötigen Verlängerung der Pandemie geführt. Als die Delta-Variante in Indien entstand, war dort nur ein geringer Teil der Bevölkerung geimpft. Im südlichen Afrika, wo Omikron entdeckt wurde, waren es acht bis zwölf Prozent. Insofern kann man sagen, dass sich der reiche Norden aufgrund der ungerechten Verteilung der Impfstoffe neue Virusvarianten gezüchtet hat, die durch keine Reiseblockaden aufgehalten werden können.
Wie konnte das Impfen überhaupt zu einem solchen Politikum werden?
Zunächst wirkt die in vielen Ländern zu beobachtende Impfgegnerschaft sehr beunruhigend. Doch es gab sie schon bei früheren Massenimpfungen wie der Pockenschutzimpfung und bei den Choleraimpfstoffen. Es handelt sich um kollektive Verängstigungsprozesse, die durch die Unberechenbarkeit der Pandemien ausgelöst wurden. Sie führen auch heute noch dazu, dass viele Menschen nach einfachen Erklärungsmustern für das Unheil suchen, das über sie hereingebrochen ist. Aber auch die Linke hat viel verkehrt gemacht.
Warum?
Große Teile der Linken agierten in der Pandemie sehr staatsfixiert und trugen autoritäre Maßnahmen wie den Großen Lockdown mit oder forderten gar seine Verschärfung. Das führte dazu, dass Teile des grün-alternativen Spektrums ins andere Lager umschwenkten und immer stärker nach rechts offen wurden. Das ist ein Problem. Die Linke hätte eine eigenständige Position entwickeln müssen, die nicht autoritätsgläubig ist, sondern präzise, gesundheitswissenschaftlich und epidemiologisch ausgewiesene Gegenmaßnahmen mit einer Kampagne zur sofortigen Entkommerzialisierung und Rekommunalisierung des Gesundheitswesens verbindet.
Am Anfang Ihres neuen Buches »Blinde Passagiere« beschreiben Sie die lange Vorgeschichte der Pandemie. Es macht den Eindruck, dass man eigentlich mit einer solchen Katastrophe hätte rechnen müssen. Warum lief trotzdem so viel schief?
Es gab in der Tat Planspiele bezüglich einer schweren Pandemie. Die vorangegangenen Corona-Pandemien, Sars-CoV-1 in den Jahren 2002/03 und Mers 2012, waren Weckrufe. Man ist in diesen Planspielen aber nur von Worst-Case-Szenarien ausgegangen und nicht von einem mittelschweren Pandemieverlauf wie jetzt bei Covid-19. Die Folge war, dass man davon ausging, dass das Gesundheitssystem sowieso zusammenbrechen würde und man sich deswegen nur auf die Aufrechterhaltung der lebensnotwendigen Infrastruktur konzentrieren sollte.
War das Gesundheitssystem für eine Pandemie überhaupt gewappnet?
Das Gesundheitswesen ist in den vergangenen Jahrzehnten ökonomisiert und weitgehend privatisiert worden. Schon in Normalsituationen ist es am Limit. Das betrifft sowohl das Personal als auch die Bettenkapazitäten. Da gibt es keine Reserven. Das ist auch der Grund, warum die Pandemie einen so schweren Verlauf genommen hat und es zu Panikreaktionen kam.
Mit Panikreaktionen meinen Sie den Lockdown?
Ja. Statt eines Shutdowns mit seinen generellen Kontakt- und Mobilitätsbeschränkungen hätte man viel präziser die vulnerablen Gruppen in den Alten- und Pflegeheimen und den Krankenhäusern schützen müssen, denn Sars-CoV-2 ist für Menschen über 70 Jahre und chronisch Kranke besonders gefährlich. Dort sind die Menschen gestorben. Dort wurde viel verkehrt gemacht. Stattdessen haben führende Gesundheitspolitiker, beispielsweise Herr Lauterbach, ständig die Situation weiter dramatisiert, statt die wirklichen Probleme zu benennen. Er hatte eine Karriere als sozialdemokratischer Exponent der neoliberalen Deregulierung des Krankenhaus- und Gesundheitswesens hinter sich. Von einem solchen Politiker können wir nicht erwarten, dass er die wirklichen Ursachen des Pandemiedesasters angeht.
Sie schreiben in Ihrem Buch, dass eine negative Folge der Worst-Case-Szenarien im Vorfeld der Pandemie war, dass man keine Vorräte an basishygienischen Artikeln wie Schutzanzüge und Gesichtsmasken hielt, die bei der Eindämmung einer Pandemie essenziell sind. Warum war das so?
Das hat damit zu tun, dass die kommerziellen Interessen der Pharmaindustrie im Vordergrund standen. Mit Desinfektionsmitteln und den Utensilien der Infektionshygiene lässt sich nicht dieselbe Rendite wie mit neuen Medikamenten und Impfstoffen erzielen.
War es nicht aber auch bemerkenswert, dass es so schnell Impfstoffe gab?
Wie schnell Impfstoffe präsentiert werden konnten, war in der Tat bemerkenswert. Es gab jedoch eine Vorlaufzeit von mindestens 15 Jahren. Bereits seit der Sars-Epidemie von 2002/03 forschte man in dieser Richtung. Die Gen-Fähren sind in der Krebstherapie schon seit mehr als zehn Jahren etabliert. Das hat aber nicht verhindert, dass die Welt in der Pandemiebekämpfung zweigeteilt ist: in einen reichen Norden, der auf die High-Tech-Impfstoffe der großen Biotech- und Pharmakonzerne setzt, und den Rest der Welt, der hauptsächlich auf die traditionellen Totimpfstoffe angewiesen ist. Noch länger ließ jedoch die Entwicklung wirksamer Medikamente auf sich warten.
Woran lag das?
Auch in Sachen Medikamente wurde bereits lange vor der Pandemie geforscht. Da gab es vielversprechende Ansätze im Bereich der Sars-Forschung, denn der Erreger (Sars-CoV-1) ist mit Sars-CoV-2 eng verwandt. Doch wurden die Arbeiten daran zwischenzeitlich eingestellt. Ein Pfizer-Manager brachte den Grund dafür ziemlich ehrlich auf den Punkt: »No market, no research.« Wo es keinen Markt und keine Rendite gibt, gibt es auch keine Forschung.
Der Renditedruck führt also dazu, dass wichtige Medikamente nicht entwickelt werden?
Die Entwicklung von Impfstoffen und wirksamen Medikamenten ist ein globales Gemeingut. Das darf nicht den renditeorientierten Großkonzernen und dem Diktat der Patent- und Urheberrechte überlassen werden. Neben der Rekommunalisierung des Gesundheitswesens muss sich eine sozialistisch orientierte Gesundheitspolitik auch für die Überführung der medizinischen Forschung in Gemeineigentum einsetzen.
Stichwort Sozialismus: Als linker Leuchtturm wird gerne Kuba gesehen, das trotz des US-Embargos und seiner begrenzten Mittel fünf eigene Impfstoffe entwickelt hat. Kann man von Kuba bei der Pandemiebekämpfung etwas lernen?
Bei der Impfstoffentwicklung haben die Kubaner einen interessanten Mittelweg zwischen den modernen und traditionellen Ansätzen gewählt. Auch in anderen Bereichen war das kubanische Gesundheitswesen sehr effizient - trotz aller Engpässe. Es setzte zum Beispiel früher als die Metropolen auf allgemein wirksame Medikamente, um schwere und schwerste Verläufe einzudämmen. Was die Behandlung und Vorbeugung von Sars-CoV-2 angeht, war Kuba im Vergleich zu Lateinamerika und der Karibik-Region vorbildlich.
Ein Ansatz, mit dem Linke auf die Coronakrise reagieren wollten, war die Zero-Covid-Initiative. Diese kritisieren Sie scharf. Warum?
Der Ansatz von Zero Covid war unrealistisch und letztlich unverantwortlich. Er ging davon aus, dass die Pandemie durch einen rigorosen Shutdown in sechs bis acht Wochen beendet hätte werden können. Doch so einfach ist das nicht, es wird den wesentlichen epidemiologischen Eigenschaften von Covid-19 nicht gerecht. Zudem war die Zero-Covid-Kampagne eurozentristisch und extrem staatsfixiert. Wer einen europaweiten Shutdown fordert, fordert auch die Schließung von Grenzen und eine Abschottung von der übrigen Welt. Eine globale Pandemiedynamik kann aber nur durch ein global koordiniertes Vorgehen eingedämmt werden.
War nicht ein sympathischer Ansatz von Zero Covid, dass auch der kapitalistische Normalbetrieb eingestellt werden sollte zur Pandemiebekämpfung? So gab es zum Beispiel 2020 Hotspots beim Fleischkonzern Tönnies und bei den Erntehelfern, die in diesem Zuge skandalisiert wurden.
Dass in diesen Bereichen zur Eindämmung des Infektionsrisikos etwas gemacht werden musste, liegt auf der Hand. Trotzdem wäre ein allgemeiner Shutdown, wie ihn Zero Covid gefordert hat, unrealistisch gewesen. Er hätte zu einer katastrophalen und unkontrollierbaren Krisenentwicklung geführt. Auch viele Arbeiter*innen hätten ihn aus Angst um ihre Jobs nicht mitgetragen. Denn man darf nicht vergessen: Auf globaler Ebene gab es den Shutdown durch den Zusammenbruch der Lieferketten. Tausende Fabriken wurden zeitweilig geschlossen, weil es keine Vorprodukte gab. Im ersten Pandemiejahr waren weltweit 485 Millionen Arbeitsplätze weggefallen. Nur in den Metropolen wurde das durch Kurzarbeitergeld kompensiert, allerdings mit Ausnahme der USA und Kanadas. In den Schwellen- und Entwicklungsländern verloren die Arbeiter*innen mit ihrer Arbeit ihre Existenzgrundlage, vor allem im informellen Sektor.
Wie hätte eine radikale Staatskritik aussehen sollen?
Bei der Pandemiebekämpfung geht es um keine allgemeine, radikale Staatskritik. Es geht um eine sehr konkrete Kritik konkreter Maßnahmen und ihrer Akteure. Die politischen Entscheidungszentren haben einen ziellosen Aktionismus entwickelt, um die tatsächlichen Ursachen des Desasters, die Skelettierung und Kommerzialisierung des öffentlichen Gesundheitswesens, zu verschleiern.
Was hätte Zero Covid dann machen sollen?
Man hätte gemeinsam mit den Gesundheitsarbeiter*innen in der Pflege und den Krankenhäusern eine Kampagne starten müssen, um die besonders gefährdeten chronisch Kranken und alten Menschen durch das sofortige Hochfahren der Infektionshygiene zu schützen. Das setzte zugleich die massive und sofort greifende Verbesserung ihrer Arbeitsbedingungen voraus: Eine Arbeitszeitverkürzung auf 30 Wochenstunden, sofortige Lohnerhöhungen und der Abschluss von Tarifverträgen für alle Beschäftigten wären mögliche Forderungen gewesen. Viele Pflegekräfte haben die Altenheime und Intensivstationen bereits verlassen, weil sie völlig ausgepowert sind.
In Ansätzen gab es dies zum Beispiel bei der Berliner Krankenhausbewegung. Doch nun scheint man wieder zur Tagesordnung übergehen zu wollen. Namhafte Virologen behaupten bereits, dass Corona bald endemisch werde und die Pandemie überstanden sei.
Ich wäre da vorsichtiger. Die Pandemie ist mit der Omikron-Variante zwar weniger gefährlich als in den voraufgegangenen Wellen, aber ein Ende ist noch nicht in Sicht. Wann Covid-19 endemisch wird, ist noch nicht klar.
Was macht Sie so pessimistisch?
Ich bin nicht pessimistisch, aber skeptisch. Auch wenn Corona vielleicht im Sommer endemisch wird, können im Herbst und Winter immer wieder neue Varianten auftreten, die neue Pandemiewellen auslösen. Das ist auch bei der Influenza zu beobachten. So war es zum Beispiel bei der Asiatischen Grippe 1957/58, der Hongkong-Grippe 1968 oder der Influenza-Pandemie 2017/18. Diese Ausbrüche waren nicht mehr endemisch, also lokal begrenzt, und dabei sind viele Menschen gestorben. Die ganze Geschichte ist noch nicht zu Ende. Es gibt das Problem Long Covid, über das wir noch wenig wissen. Zudem bilden sich in vielen Wild-, Haus- und Nutztierarten neue Reservoire für neue Varianten, die wieder auf den Menschen überspringen können.
Werden wir dann früher als gedacht mit neuen Pandemien rechnen müssen?
Wir werden wahrscheinlich in 10 bis 20 Jahren die nächste schwere Pandemie erleben, vielleicht auch schon früher. Unsere Epoche neigt besonders zu Pandemien. Der Kapitalismus produziert mit dem Klimawandel, der Massentierhaltung und der fortschreitenden Naturzerstörung seine eigenen Pandemien. Seit dem Beginn des neuen Millenniums haben wir bereits mehrere globale Ausbrüche neuartiger Krankheitserreger erlebt. Sars-CoV-1 ist noch immer endemisch. Ebenso ist Mers noch nicht ausgerottet. Und man darf nicht vergessen, dass wir noch immer eine schleichende Aids-Pandemie haben, die in einigen Weltregionen virulent ist. Aktuell sind weltweit 37,5 Millionen Menschen an Aids erkrankt. Es gibt zwar inzwischen effiziente Medikamente, aber noch immer keinen Impfstoff.
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