- Wirtschaft und Umwelt
- Wirtschaftskrise in der Türkei
Ermutigung für mehr Belegschaften
In der Türkei häufen sich angesichts der stark steigenden Lebenshaltungskosten wilde Streiks und andere Proteste
Seit Beginn des Jahres sind in verschiedenen Orten der Türkei spontane Streiks und Proteste gegen hohe Lebenshaltungskosten und für höhere Löhne ausgebrochen. Zuvor hatte die AKP-Regierung die Strompreise für Haushalte um 50 Prozent, für größere Unternehmen sogar um 100 Prozent erhöht. Bei einer Inflationsrate von offiziell 48 Prozent - unabhängige Forscher*innen gehen sogar von 114 Prozent aus - sind die Preise für den täglichen Einkauf massiv angestiegen und brachten das sprichwörtliche Fass zum Überlaufen.
Ladenbesitzer*innen, die ihre Geschäfte schließen mussten, hingen ihre Stromrechnungen ins Fenster und schrieben dazu: »Wir wurden ausgeraubt.« Vielerorts gingen Menschen auf die Straße und forderten eine Rücknahme der Preiserhöhungen. Seit Monaten führt die Wirtschafts- und Finanzpolitik in der Türkei zu einer massiven Verarmung der Bevölkerung, eine politische Lösung ist bisher nicht in Sicht.
Ebenfalls zum Jahreswechsel wurde der Mindestlohn um rund 50 Prozent auf 4250 Lira (275 Euro) erhöht. In der Türkei erhielten 2021 laut einer Studie der Gewerkschaftskonföderation DISK 57 Prozent der Arbeiter*innen einen Lohn, der nur bis 20 Prozent über dem Mindestlohn lag. Im Vergleich dazu waren das in Deutschland gerade einmal 4,8 Prozent der Beschäftigten.
Im Privatsektor der Türkei ist diese Zahl noch höher und wird aktuell auf 72 Prozent geschätzt. Da der Mindestlohn von Seiten der Regierung relativ stark erhöht worden war, entschieden viele der Unternehmen, nicht mehr wie zuvor üblich 10 bis 20 Prozent mehr als den Mindestlohn zu zahlen. Somit wurde dieser von einer Untergrenze zu einem generellen Lohn, der weder Arbeitserfahrung noch Ausbildungsgrad berücksichtigt.
Auch dagegen richteten sich die Streiks in verschiedenen Sektoren wie der Textilproduktion und dem Lieferservice. Seit Jahresbeginn bis Mitte Februar verzeichnete das Forschungskollektiv Emek Çalışmaları 65 Streiks. Bei 29 konnten bereits Erfolge erzielt werden, andere dauern an.
Hinzu kommen Kämpfe um das Recht auf gewerkschaftliche Organisierung wie aktuell bei der Firma Yemeksepeti (dt. Lebensmittelkorb). Das Unternehmen beschäftigt Motorradkuriere, die Essen nach Hause liefern, und dominiert diesen Markt in der Türkei. Während der Pandemie, die langfristige Ausgangssperren mit sich brachte, stiegen die Profite des Lieferdienstes rasant an. Die Beschäftigten fordern nun neben höheren Löhnen auch besseren Schutz der Kuriere und weniger Zeitdruck während der Lieferungen.
Das Yemeksepeti-Arbeiter-Komitee (Yemeksepeti İşçi Komitesi), das neben Kurieren auch Mitarbeiter in den Lagerräumen organisiert, kämpft seit der Zulassung von Tarifvertragsverhandlungen durch das Arbeitsministerium um das Recht auf gewerkschaftliche Organisierung. Die gerichtliche Verhandlung dazu steht allerdings noch aus. Da Yemeksepeti zu der in Berlin ansässigen Firma Delivery Hero gehört, gab es vor der dortigen Zentrale bereits Solidaritätskundgebungen mit den Kolleg*innen in der Türkei.
Besonders hart ging die Geschäftsleitung der Supermarktkette Migros gegen die Streikenden in einer Lagerhalle im Istanbuler Stadtteil Esenyurt vor. Auch diese forderten eine Erhöhung der Löhne. Kurze Zeit später fuhren Wasserwerfer in das Depot ein, und rund 250 Arbeiter*innen wurden festgenommen und danach entlassen. Im Anschluss entwickelte sich eine Boykottkampagne gegen das Unternehmen, die auch von Prominenten wie dem Popsänger Mabel Matiz unterstützt wird.
Die Streiks und Aktionen reihen sich ein in immer wieder spontan aufflammende Proteste gegen politische Entscheidungen der AKP-Regierung. Für das nächste Jahr stehen in der Türkei Wahlen an, und das Oppositionsbündnis Millet Ittifaki mit der CHP an der Spitze hofft, die AKP-Regierung abzulösen.
Statt größerer Mobilisierungen auf der Straße oder in den Betrieben setzt die Opposition jedoch auf politische Überzeugung durch Presseerklärungen. Die Gewerkschaftskonföderation DISK organisiert nun zwar Kundgebungen, in denen auch sie sich gegen die Erhöhung der Strompreise und für höhere Löhne ausspricht, doch stehen einzelne DISK-Gewerkschaften auch selbst in der Kritik, unzureichende Tarifverträge für ihre Mitglieder verhandelt zu haben.
Ob aus den wilden Streiks größere Proteste von politischem Ausmaß entstehen, ist aktuell noch nicht absehbar. Jedoch sind sie ein deutlicher Ausdruck zunehmender Unzufriedenheit mit der Wirtschaftspolitik der AKP und eine Ermutigung für weitere Belegschaften, ebenfalls für höhere Löhne zu kämpfen.
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