- Wirtschaft und Umwelt
- Bonuszahlung an Pflegekräfte
Der Corona-Schutzwall bröckelt
Medizinisches Fachpersonal in den Arztpraxen fühlt sich nicht gesehen und warnt vor Konsequenzen
Der seit Monaten versprochene Corona-Bonus für das Pflegepersonal soll nun tatsächlich kommen. Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) hat ihn nun für die »nahe Zukunft« in Aussicht gestellt. »Der Pflegebonus kommt. Wir haben einen entsprechenden Entwurf entwickelt«, sagte der Minister diese Woche.
Der Bonus solle an die Pflegenden gehen und nicht an andere Berufsgruppen, es dürfe aber nicht allein bei diesem bleiben. »Wir müssen darüber hinaus auch die Situation für Pflegende insgesamt verbessern, durch neue Personalbemessungssysteme und bessere Arbeitsbedingungen«, sagte Lauterbach. Letzteres forderte am Mittwoch auch der Hauptgeschäftsführer des Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverbands, Ulrich Schneider. »Es braucht keinen Bonus, sondern endlich bessere Arbeitsbedingungen und eine ordentliche Bezahlung«, fügte er hinzu. Und: »Wer das ernst meint, muss fünf Milliarden Euro pro Jahr in die Hand nehmen, nicht 500 Millionen.«
Laut dem Eckpunktepapier aus dem Bundesgesundheitsministerium soll eine Milliarde Euro jeweils zur Hälfte für Beschäftigte in den Krankenhäusern und den Pflegeeinrichtungen ausgegeben werden. Für Vollzeitbeschäftigte in der Altenpflege soll so ein Betrag von 550 Euro abfallen. »Die geplante Aufteilung des Pflegebonus ist für die Beschäftigten in der Langzeitpflege ein schlechter Witz«, betonte Schneider vom Paritätischen. Fast drei Viertel der Beschäftigten in der Altenpflege arbeiteten in Teilzeit, mit dem geplanten Bonus riefen Lauterbach und die anderen Ampel-Verantwortlichen bei diesen Menschen mehr Unmut hervor, als wenn die Bundesregierung gar nichts zustande gebracht hätte, so Schneider weiter.
Die Berufsgruppe der Medizinischen Fachangestellten (kurz MFA) in den Arztpraxen zeigt sich ebenfalls bitter enttäuscht darüber, dass sie bei der Ausschüttung einmal mehr außen vor bleibt. »Wir sind überhaupt nicht begeistert von dem neuen Entwurf zum Corona-Sonderbonus. Wieder einmal werden die Medizinischen Fachangestellten nicht berücksichtigt, obwohl sie in den Arztpraxen die ersten Ansprechpartner der Patienten bei allen Fragen rund um Covid-19 sind, seit zwei Jahren die Test- und Impfstrategie zusätzlich zum normalen Praxisalltag umsetzen müssen und dabei immer wieder Hass und Aggressionen ausgesetzt sind«, erläutert Heike Rösch, Pressesprecherin des Verbandes medizinischer Fachberufe e.V., den Frust der Berufsgruppe.
Vor allem seit Ausbruch der Corona-Pandemie nimmt die körperliche und auch psychische Belastung der MFA stetig zu. Testungen bei Covidverdacht und für die Gesundheitsämter - die das allzu oft auf die Arztpraxen abwälzen - und die Versorgung von Akutpatienten, die teilweise von den Krankenhäusern wegen einer Coronainfektion abgelehnt werden, sind nur einige der hinzugekommenen Aufgaben seit Beginn der Pandemie. »Dazu kommen Unmengen an Bürokratiekram, und jeden Tag erhalten wir Rundschreiben mit Änderungen, die kaum umgesetzt werden können«, setzt eine Arzthelferin in einem Protestbrief die Liste der Anforderungen fort.
Unzählige solcher Protestschreiben hat der Verband medizinischer Fachberufe e.V. auf seiner Webseite veröffentlicht, um der Öffentlichkeit einen Eindruck davon zu geben, welche Extraleistungen die MFA seit über zwei Jahren tagtäglich erbringen. Dazu kommen die zunehmenden Aggressionen und Beleidigungen durch Patienten, von denen viele Medizinische Angestellte berichten. »Wir müssen zum Beispiel Patienten, die seit Wochen auf einen Termin warten, des öfteren absagen, weil der Impfstoff nicht gekommen ist. Da wird man dann angeschrien, und das, wo das Einbestellen und Umbestellen so schon ein enormer Mehraufwand ist, unter dem zunehmend die Regelversorgung der Patienten leidet«, schreibt eine weitere Angestellte.
Bei alldem leiden die Medizinischen Fachangestellten vor allem unter der fehlenden Wertschätzung gegenüber ihrem immensen Aufwand. Es werde immer nur über Pflegepersonal, Krankenhäuser und Altenheime geredet, aber nie über die Situation in den Arztpraxen, kritisieren viele. »Wir MFA arbeiten mittlerweile ohne Pausen bis zu 14 Stunden täglich, und das für einen Hungerlohn«, macht eine Sprechstundenhilfe in einem der Protestbriefe deutlich. Daher lauten die übergreifenden Forderungen: Eine Pflicht zur tariflichen Bezahlung, endlich einen Coronazuschlag auch für MFA und die längst fällige öffentliche Würdigung ihrer Arbeit.
Dass es für die MFA vom Bundesgesundheitsministerium keine Wertschätzung in Form eines Bonus gibt, werde dazu führen, dass der ohnehin schon existierende Fachkräfteengpass in den nächsten Wochen und Monaten weiter zunimmt, ist sich Heike Rösch vom Verband medizinischer Fachberufe e.V. sicher. »Das bleibt dann auch nicht ohne Auswirkungen auf die ambulante Versorgung«, warnt sie.
Die mehr als 330 000 MFA in deutschen Arztpraxen seien schon längst am Limit. »Die Stressbelastung ist von Welle zu Welle gestiegen. Durch die Impfungen in den Arztpraxen seit dem Frühjahr gab es keine Erholungsphasen im Sommer, Urlaubsplanungen wurden gekürzt, und seit mehr als 14 Monaten türmen sich die Überstunden«, zählt die Präsidentin des Verbandes medizinischer Fachberufe e.V., Hannelore König, auf. Zudem fielen Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen immer häufiger krankheitsbedingt aus. »Und Ersatz ist nicht in Sicht, denn bereits vor der Pandemie gehörten die MFA zu den Engpassberufen«, sagt König.
Die letzte öffentlichkeitswirksame Aktion neben den auf der Webseite veröffentlichten Protestbriefen hat der Verband am 26. Januar organisiert. Diese wurde auch von der Bundesärztekammer und der Bundeszahnärztekammer unterstützt. Und man werde weiter versuchen, auf die enorme Belastung und die fehlende Wertschätzung der Leistungen von Medizinischen Fachangestellten aufmerksam zu machen. »Ohne sie wären zum Beispiel auch die mehr als vier Millionen Impfungen pro Woche in den Arztpraxen nicht machbar«, so König.
Während die MFA bei der Verhütung und Bekämpfung von Infektionskrankheiten im Allgemeinen und Covid-19 im Besonderen vom Gesetzgeber und von den Verantwortlichen in der Politik in vollem Umfang berücksichtigt würden, blieben sie hingegen völlig unbeachtet, wenn es um die Anerkennung dieser besonderen Leistungen geht, betont die Verbandspräsidentin. Letztlich könne das dazu führen, dass dieser entscheidende »Schutzwall« vor den Kliniken wegbricht - 13 von 14 Covid-19-Patienten werden in den niedergelassenen Arztpraxen versorgt. Und auch die Gesundheitsämter wären ohne die enorme Entlastung durch die Arztpraxen wieder heillos überfordert.
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