- Kultur
- Krieg in der Ukraine
Nicht Hass, sondern Hilfe durch soziale Medien
In Zeiten der Not werden Twitter, Facebook, Instagram und Co zu wahrhaft sozialen Netzwerken
Stellen Sie sich vor, Sie wachen auf und es ist Krieg. Am Donnerstag wurde das zur Realität zahlreicher Menschen. In der Ukraine dürften viele wegen der Bedrohungslage schon länger nicht mehr richtig geschlafen haben. Nun ist er also da, der Krieg Russlands gegen die Ukraine und die große Frage: Was nun?
Die oft für die Verbreitung von Hass und Provokationen verachteten sozialen Medien werden in Zeiten solcher Not zum Raum für Unterstützung und Hilfe. Das war nach dem Ende des Einsatzes in Afghanistan der Fall, ist immer wieder in Einzelfällen sichtbar und wird auch im aktuellen Kriegskontext so sein. Und das geht über reine Solidaritätsbekundungen und Aufrufe zu Kundgebungen hinaus: »Mich haben gerade verzweifelte junge Ukrainer*innen des Zusammenschlusses Vitsche Berlin wiederholt kontaktiert und um Hilfe gebeten. Es gibt die konkrete Anfrage, ob es Orgas gibt, die Fluchtrouten kennen und Kontakte haben, die die Aufnahme von Geflüchteten organisieren«, schrieb die Autorin Jasmina Kuhnke Donnerstagmorgen auf Twitter. Sie hat über 126 000 Follower*innen, darunter diverse Nichtregierungsorganisationen und Politiker*innen.
Das Internet ist voller Debatten, Aufregung und Absurditäten. Jeden Donnerstag schauen wir uns die bizarrsten, lustigsten oder wichtigsten Momente im Netz an. Ob hitzige Diskussion auf Twitter oder lustiger Trend auf TikTok: In unserer Rubrik »Aus dem Netz gefischt« greifen wir es auf. Texte zum Nachlesen: dasnd.de/gefischt
Doch auch weniger bekannte Personen können durch Engagement in den sozialen Medien zunehmende Aufmerksamkeit bekommen sowie ein Netzwerk aufbauen und konkrete Unterstützung finden. Genau so ist es 2021 in zahlreichen Fällen gelungen, afghanische Ortskräfte und ihre Familien aus Kabul nach Deutschland zu bringen, während die Evakuierungsaktionen der Bundesregierung eher einen kläglichen Eindruck hinterließen. In Krisenzeiten wird dank sozialer Netzwerke aus digitalen Kontakten reale Rettung.
Vor zwei Jahren machte die Canadian Women’s Foundation auf ein Handzeichen aufmerksam, das Opfern häuslicher Gewalt ermöglichen soll, fremde Menschen um Hilfe zu bitten, ohne dass dies dem Täter bewusst wird. Videos mit dem Zeichen gingen in den sozialen Medien viral und haben so im November 2021 im US-Bundesstaat Kentucky dazu beigetragen, dass eine tatsächliche Entführung gestoppt werden konnte. Ein 16-jähriges Mädchen hatte aus dem Auto heraus um Hilfe »gerufen«, was andere Pkw-Fahrer sahen und die Polizei riefen.
Besonders Menschen der Generation Z, den »Digital Natives«, die zwischen 1997 und 2010 geboren und in der digitalen Welt aufgewachsen sind, dienen soziale Medien auch der Information. Statt bei der »Tagesschau« informieren sie sich auf dem Videoportal Tiktok. Statt einen Leser*innenbrief zu schreiben, twittert man. Die Kriegsszenerie landet so ungefiltert quasi vor der eigenen Haustür: kilometerlange Ketten aus Rücklichtern von Autos, die im Stau stehen oder in der Schlange an der Tankstelle; Luftangriffe, Leuchtfeuer und Rauchwolken über einer Stadt. Alles schnell abrufbar im Netz.
Natürlich sind nicht alle Bilder korrekt, nicht alle Quellen gesichert. Zudem muss auf Manipulationen wie »Astroturfing« geachtet werden. Dabei werden aus politischen PR- oder kommerziellen Werbegründen spontane Graswurzelbewegungen vorgetäuscht, um eine Idee oder Unterstützung »von unten« zu suggerieren. Dennoch: Es gibt zahlreiche Kanäle, die wirklich ernsthaft Wissenswertes berichten. Insbesondere auf Tiktok haben sich Accounts herausgebildet, die mit persönlichen Eindrücken und Kurz-News über den Konflikt in der Ukraine informieren - und so Nachrichten für die Generation Z produzieren.
Die Ukrainerin »xenasolo« etwa macht in ihren Videos keinen Hehl aus ihrer Abneigung gegenüber Putin, klärt gleichzeitig aber auch sachlich über das Geschehen in ihrer Heimat auf. Der US-Amerikaner Philip DeFranco hat auf Tiktok über eine Million Follower*innen. Er war am Donnerstag einer der Ersten, der in einem Video über den russischen Angriff informierte.
Insofern ist nicht alles schlecht an Twitter, Facebook, Instagram und Co. In Krisenzeiten werden sie zu wahrhaft sozialen Netzwerken.
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