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Erst kamen die Deutschen, jetzt die Russen
Der russische Angriff zielt vor allem auf die ukrainische Hauptstadt Kiew. Will Moskau die Regierung stürzen?
Nach der bisher schlimmsten Nacht seiner Präsidentschaft wählte Wolodymyr Selenskyj am Freitagmorgen drastische Worte. »Heute Nacht haben sie mit der Bombardierung von Wohngebieten in der Heldenstadt Kiew begonnen«, erklärte der ukrainische Staatschef in einer etwa vierminütigen Kurzansprache an die Bürger seines Landes. »Das erinnert alles an das Jahr 1941«, so Selenskyj mit Anspielung auf den Angriff der deutschen Luftwaffe auf die ukrainische Hauptstadt vor rund 80 Jahren. »Nur die Solidarität und Entschlossenheit der Ukrainer kann unsere Freiheit bewahren und den Staat verteidigen.«
Dass er mit dem Verweis auf die historische Parallele vielen Ukrainern aus der Seele sprach, zeigt ein Blick in die Zeitungen, Internetmedien und sozialen Netzwerke des Landes, das am Donnerstag von Russland überfallen wurde. Tausende empören sich dort über den Luftangriff auf die ukrainische Hauptstadt. Viele fühlen sich an Erzählungen ihrer Großeltern vom Beginn des deutschen Überfalls auf die Ukraine erinnert. Wie damals gebe es keinen offenkundige Gründe für einen Beschuss der Stadt.
Im Laufe des Donnerstags waren am Rand von Kiew zuvor auch russische Fallschirmjäger gelandet. Am Nachmittag wurde dann in der ukrainischen Hauptstadt Luftalarm ausgelöst. Die Behörden riefen die Bürger dazu auf, sich unverzüglich in Luftschutzbunkern in Sicherheit zu bringen. Vier Metro-Stationen wurden für die Bevölkerung geöffnet. Viele Menschen verbrachten die Nacht dort in improvisierten Schlafstätten. Auch in Charkiw, der zweitgrößten Stadt der Ukraine, brachten sich viele in der Metro vor russischen Luftschlägen und Bomben in Sicherheit.
Parallel dazu stießen am ersten Tag des Angriffs russische Panzer über die belarussische Grenze auf Kiew vor. Sie drangen bis 30 Kilometer tief in ukrainisches Territorium ein. Die Erstürmung der ukrainischen Hauptstadt sei offensichtlich ein klares Kriegsziel, schlussfolgerten Analysten daraufhin. Geht es Putin um einen Sturz der ukrainischen Regierung?
Doch das Kiewer Umland war nicht das einzige Schlachtfeld. Einer Analyse der in Lettland ansässigen russischen Internetzeitung »Meduza« zufolge operieren seit Donnerstag insgesamt acht russische Militärgruppen auf ukrainischem Territorium. Diese lieferten sich unter anderem am Stadtrand der Metropole Charkiw harte Gefechte mit der ukrainischen Armee. Erbitterte Kämpfe tobten zudem im Gebiet Suma direkt an der russischen Grenze. Augenzeugenberichten zufolge sei die Gebietshauptstadt Sumy von russischen Gruppen eingeschlossen worden.
International sorgte am Donnerstag vor allem die Eroberung des ukrainischen Atomkraftwerks Tschernobyl durch die russische Armee für Aufregung. Kurz darauf meldete das ukrainische Umweltamt erhöhte Strahlung in dem Gebiet. Die Ursache für den Anstieg ist derzeit noch unklar. Bei Kämpfen sei ein Endlager für radioaktive Abfälle getroffen worden, erklärte die Nachrichtenagentur AP. Russische Behörden dementierten: Das Strahlungslevel sei unverdächtig. Andere Berichte führten die gestiegenen Strahlungswerte auf Militärfahrzeuge zurück, die radioaktiven Staub in der Umgebung des Kraftwerks aufgewirbelten hätten.
Die Aufmerksamkeit von Presse und ukrainischen Behörden konzentrierte sich aber vor allem auf die Hauptstadt des Landes. Nachts wurden aus Kiew Luftangriffe gemeldet. Handyvideos aus sozialen Medien zeigen den Abschuss eines zunächst unbekannten Objektes über der ukrainischen Hauptstadt, welches brennend in ein mehrstöckiges Wohnhaus stürzt. Das Gebäude ging daraufhin in Flammen auf. Ukrainische Medien identifizierten das abgestürzte Objekt als russisches Jagdflugzeug vom Typ Su 27.
Am Freitagmorgen ging der russische Angriff auf Kiew dann in die entscheidende Phase über. 80 Kilometer vor der Stadt sei eine Panzerkolonne gesichtet worden, die sich schnell auf die Hauptstadt zubewege, berichtet die ukrainische Nachrichtenagentur Unian. Russische Truppen wollten von zwei Richtungen in Richtung Zentrum vorstoßen. »Heute wird der schwierigste Tag«, sagte ahnungsvoll Anton Geraschtschenko, Berater des ukrainischen Innenministeriums.
Dann ging alles ganz schnell. Die Truppen stünden nur noch 32 Kilometer vor der Stadt, meldeten russische und ukrainische Medien mit Verweis auf US-amerikanische Geheimdienstquellen kurz vor Mittag. Am Kiewer Stadtrand, im Viertel Minskij, stehe ein Angriff der gelandeten Fallschirmjäger unmittelbar bevor. Dieser begann wenig später in der Nähe der Metrostation Obolon. Auf Videos von Anwohnern ist das Knattern von Maschinengewehren zu hören. Schützenpanzer rollten durch die Hinterhöfe. Auf einem Handyclip ist zu sehen, wie ein russischer Panzerwagen ohne offensichtlichen Grund auf einer Straße plötzlich auf die Gegenspur zieht und einen entgegenkommenden zivilen Pkw frontal rammt und überrollt. Der Fahrer überlebte wie durch ein Wunder. Das russische Verteidigungsministerium kommentierte die Offensive nicht.
Nur kurz zuvor signalisierte Präsident Wolodymyr Selenskyj seine Bereitschaft zu Gesprächen über die Neutralität der Ukraine Landes und von Russland geforderte Sicherheitsgarantien. Es gehe darum, Menschenleben zu retten. Der Kreml ließ die Offerte unbeantwortet.
Währenddessen rückten russische Truppen auch in anderen Teilen der Ukraine vor. Nach Meldungen des russischen Verteidigungsministeriums drang Moskaus Armee auch in die ukrainische Stadt Cherson an der Halbinsel Krim ein. Damit übernimmt der Kreml die Kontrolle über eine der strategisch wichtigsten Wasserstraßen der Ukraine - den Nord-Krim-Kanal, welcher 85 Prozent des Wasserbedarfs der Krim abdeckt. Nach der russischen Annexion der Halbinsel hatte Kiew den Kanal blockiert. Seitdem leidet die Landwirtschaft auf der Krim vor allem während der Dürreperioden im Sommer.
Die Kämpfe in Kiew weiteten sich unterdessen immer weiter aus. Schüsse seien bereits in der unmittelbaren Nähe des Regierungsviertels zu hören, meldete am frühen Nachmittag übereinstimmend die Nachrichtenagentur AP und mehrere Journalisten vor Ort.
Russlands Außenminister Sergej Lawrow befeuerte derweil die Annahme, dass es bei dem russischen Angriff in Wirklichkeit um den Sturz der ukrainischen Regierung gehe. Moskau wolle die Ukraine vom »Joch der Nazifizierung« und »Militarisierung« befreien, erläuterte er die Ziele des russischen Vorgehens während eines Treffens mit Vertretern der Donbass-Republiken. Die Regierung bestehe aus Nazis. Die Ukrainer müssten selbst über ihr Schicksal entscheiden dürfen. Jedoch habe niemand die Absicht, die Ukraine zu besetzen.
Dessen ungeachtet erklärte Wolodymyr Selenskyj gegen 13.30 Uhr Kiewer Ortszeit zum zweiten Mal seine Bereitschaft zu Verhandlungen. Medienberichten zufolge kommunizierte er aus einem Bunker.
Kurz nach 16 Uhr Moskauer Ortszeit signalisierte der Kreml dann Entgegenkommen. Russland sei bereit, eine Delegation zu Gesprächen mit der Ukraine in die belarussische Hauptstadt Minsk zu entsenden, erklärte Kremlsprecher Dmitri Peskow vor Journalisten in Moskau. Zuvor hatte Wladimir Putin in einem Telefonat mit seinem chinesischen Kollegen Xi Jinping ein Einlenken angedeutet.
In Minsk solle über einen neutralen Status der Ukraine verhandelt werden, erklärte Peskow. Das Ziel der russischen Operation habe von Anbeginn darin bestanden, den Donbass-Republiken zu helfen - unter anderem durch die »Demilitarisierung« und »Entnazifizierung« der Ukraine. »Und das ist ein untrennbarer Bestandteil dieses neutralen Status.«
Kurz darauf vollzog der Kreml jedoch eine scharfe Kehrtwende. Die ukrainischen Militärs sollten die Macht im Land ergreifen, zitierte die russische Nachrichtenagentur Ria Novosti Präsident Putin. »Mit ihnen könnten wir uns doch einfacher einigen als mit dieser Bande von Drogensüchtigen und Neonazis, welche die gesamte ukrainische Nation als Geisel genommen haben.«
Seit Beginn der russischen Invasion am Donnerstag wurden auf ukrainischer Seite nach offiziellen Angaben mehr als 130 Soldaten getötet. Nach Schätzungen der Vereinten Nationen sind in der Ukraine schon 100 000 Menschen auf der Flucht.
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